Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken, von Henning Melber und Kristin Platt
Dominic Johnson: Kennen wir uns? Was koloniale Aufarbeitung in Deutschland von der in Frankreich, Großbritannien und Belgien unterscheidet. Aus: Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken, von Henning Melber und Kristin Platt.
Dag Henrichsen Erika von Wietersheim Anton von Wietersheim Medardus Brehl Sylvia Schlettwein Henning Melber Uazuvara Ewald Katjivena
Als Heidemarie Wieczorek-Zeul am 14. August 2004 als erstes deutsches Regierungsmitglied überhaupt den Völkermord an den Herero und Nama 100 Jahre zuvor im damaligen Deutsch-Südwestafrika als solchen benannte, in Namibia vor den Nachfahren der Überlebenden, geschah das keineswegs im luftleeren Raum. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen ehemaligen europäischen Kolonialmächten hatte damals eine relativ neue, intensive Art der Aufarbeitung von Kolonialverbrechen eingesetzt. In Belgien enthüllte der Historiker Ludo de Witte 1999 mit seinem Buch L'asassinat de Lumumba erstmals in vollem Umfang die Mittäterschaft des belgischen Staates bei der Ermordung des kongolesischen Freiheitskämpfers und ersten postkolonialen Premierministers Patrice Lumumba am 17. Januar 1961. Die Veröffentlichung rief heftige Debatten von ungewohnter Schärfe hervor und bot den Start einer zwar sehr langsamen, aber dafür mittlerweile allumfassenden Infragestellung des bisherigen Selbstverständnisses Belgiens als gütige und zivilisierende Kolonialmacht im Kongo. In Frankreich brach ab dem Jahr 2000 erstmals eine breite Debatte über systematische Folter und Mord durch die französische Armee im Kampf gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN zwischen 1954 und 1961 aus. Nachdem die einstige algerische Freiheitskämpferin Louisette Ighilahriz in der Zeitung Le Monde ihre dreimonatige Haft während der »Schlacht von Algier« samt Folter und Vergewaltigung geschildert hatte, bestätigte und rechtfertigte der pensionierte General Paul Aussaresses dies in eigenen Interviews und schließlich in einem Buch im Jahr 2001 - der Beginn einer kontroversen Diskussion um französische koloniale Vergangenheitsbewältigung, die bis heute nicht abgeschlossen ist. In Großbritannien machte die Historikerin Caroline Elkins mit ihrer im Jahr 2002 ausgestrahlten, auf jahrelangen Recherchen basierenden BBC-Dokumentation White Terror erstmals auf das volle Ausmaß der britischen Repression bei der Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstandes des Kikuyu-Volkes in Kenia in den 1950er Jahren einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Gefolgt von einer Buchveröffentlichung und weiteren Recherchen anderer Forscher sowie spektakulären Gerichtsverfahren, wurde damit die bis dahin gepflegte Legende eines versöhnlichen und friedlichen britischen Rückzugs aus dem Empire zu Grabe getragen. Die deutsche Anerkennung eigener Kolonialverbrechen begann damit im europäischen Kontext relativ spät. Da in Deutschland den belgischen, französischen und britischen Debatten damals wie heute nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt wurde und wird - wenn es um Erinnerungskultur geht, gibt es kein Europa, nur Nationen und ihre Befindlichkeiten -, werden aus den Erfahrungen der anderen Länder auch keine Lehren gezogen. Etwa die, dass eine offene Debatte um vergessene Verbrechen per Definition jeden Versuch von Deutungshoheit bricht und eine Pluralität von Erinnerungen, Perspektiven, Interessen und Sichtweisen an die Stelle der bisherigen Nationalgeschichte setzt. Deutschland hingegen ordnet diese Debatte dem eigenen nationalen Rahmen unter: Wichtig für Deutsche ist die Frage der Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen deutschen Verbrechen, während für Afrikaner eher der Vergleich zwischen unterschiedlichen Kolonialherrschaften und Erinnerungen erkenntnisfördernd ist. Ein Vergleich zwischen der kolonialen Erfahrung Deutschlands und der anderer Kolonialmächte sowie zwischen der kolonialen Aufarbeitung in verschiedenen ehemaligen Kolonialmächten offenbart schon auf den ersten Blick drei wesentliche Unterschiede, die historische Debatten und deren Kristallisation in einer neuen Erinnerungskultur in andere Wege lenken könnten. Erstens: Die deutsche Kolonialzeit in Afrika ist viel länger her als die Großbritanniens, Frankreichs, Belgiens und auch Italiens, und erst recht die Spaniens und Portugals. Diskussionen um die Kolonialgeschichte in all diesen Ländern involvieren immer Zeitzeugen, in Deutschland nie. Um die Jahrtausend wende waren die diskutierten Verbrechen in Kongo, Algerien oder Kenia nur gut 40 Jahre her. Die Debatte fußte auf Bekenntnissen oder Aussagen der Täter und Opfer, getätigt und gesammelt im Bewusstsein, dass nicht mehr viel Zeit blieb, bevor niemand davon mehr am Leben wäre, aber eben auch erst, als alle Beteiligten sich aus dem aktiven Leben zurückgezogen hatten - eine Bilanzierung von Lebensgeschichten. [...]
Dies ist ein Auszug aus: Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken, von Henning Melber und Kristin Platt.
Titel: Koloniale Vergangenheit – Postkoloniale Zukunft?
Untertitel: Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken
Herausgeber: Henning Melber, Kristin Platt
Beiträge: siehe Inhaltsverzeichnis
Verlag: Brandes & Apsel
Frankfurt am Main, 2022
ISBN 9783955583217 / ISBN 978-3-95558-321-7
Broschur, 16 x 23 cm, 256 Seiten, etliche Abbildungen
Melber, Henning und Platt, Kirstin im Namibiana-Buchangebot
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