Geschichtskultur durch Restitution?, von Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer

Geschichtskultur durch Restitution?, von Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer. Beiträge zur Geschichtskultur, Band 40. Böhlau Verlag. Köln, 2021. ISBN 97834128608 / ISBN 978-3-412-51860-8

Geschichtskultur durch Restitution?, von Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer. Beiträge zur Geschichtskultur, Band 40. Böhlau Verlag. Köln, 2021. ISBN 97834128608 / ISBN 978-3-412-51860-8

Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit, herausgegeben von Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer. Restitution und Geschichtskultur im (post-)kolonialen Kontext: Facetten einer schwierigen Debatte.

Jürgen Zimmerer  

1. Koloniale Aneignung

Am 5. Juni 1799 erreichte Alexander v. Humboldt auf seiner großen Reise nach Südamerika Venezuela. Zehn Jahre zuvor hatte er bei dem berühmten Göttinger Wissenschaftler Johann Friedrich Blumenbach Vergleichende Anatomie studiert. Seinem ehemaligen Lehrer blieb er treu verbunden und unterstützte tatkräftig dessen ehrgeiziges Projekt, menschliche Schädel aus der ganzen Welt zusammenzutragen. So auch in Venezuela. In seinem Tagebuch vermerkte er:

„Wir suchten recht charakteristische Schädel für [Johann Friedrich] Blumenbach und öffneten daher viele Mapire [Körbe]. Armes Volk, selbst in den Gräbern stört man deine Ruhe! Die Indianer sahen diese Operation mit großem Unwillen an, besonders ein paar Indianer von Guaicia, welche kaum vier Monate lang weiße Menschen kannten. Wir sammelten Schädel, ein Kinderskelett und zwei Skelette erwachsener Personen."

Nur selten finden sich Passagen in den Texten europäischer Weltreisender, in denen auf Europäer als „weiße Menschen" Bezug genommen wird. Die farbliche Codierung wird in kolonialen Kontexten meist Menschen anderer Weltregionen zugeschrieben. Der kurze Perspektivenwechsel, mit dem Humboldt einen Blick auf die Europäer als fremde Eindringlinge wirft, lässt die irritierende Widersprüchlichkeit des Kolonialismus als eines auf Gewalt, Unterdrückung und Vernichtung gegründeten Systems aufblitzen. Humboldt war überzeugter Abolitionist und zugleich ein Akteur innerhalb globaler Machtverhältnisse, die zu stützen er in vielfacher Hinsicht beitrug. Ungeachtet aller berechtigten moralischen Zweifel, die in dem Zitat ausgesprochen werden, fährt Humboldt mit den Ausgrabungen fort: „Die Nacht brach ein, indem wir noch unter den Knochen wühlten." Mithilfe seines weltweiten Netzwerks, und dank der Royal Navy, die Forschungsreisende und deren Fundstücke transportierte, gelang es Johann Friedrich Blumenbach, eine in der damaligen Gelehrtenwelt viel beachtete Sammlung von über 200 menschlichen Schädeln in Göttingen zusammenzutragen. Bis heute liegen sie in dem Archiv des Zentrums für Anatomie der Georg-August-Universität zu Forschungszwecken. Szenenwechsel: Hundert Jahre nach Humboldt, ein anderer Akteur, ein vergleichbarer Kontext. Felix v. Luschan, einflussreicher Direktor der Afrika- und Ozeanien-Abteilungen des Berliner Museums für Völkerkunde, arbeitet mit Nachdruck am Aufbau meiner* Sammlungen. Dazu bedient er sich bewusst der Mittel des kolonialen Staats, seit 1884 ist das Deutsche Reich schließlich auch formal Kolonialmacht. Schon 1897 schrieb ihm der Arzt Richard Kandt aus dem wenige Jahre vorher unter deutschen,Schutz gestellten Ostafrika, „ [überhaupt ist es sehr schwer einen Gegenstand zu erhalten, ohne zum mindesten ein wenig Gewalt anzuwenden", was Kandt zu der Prognose führte: „Ich glaube, dass die Hälfte Ihres Museums gestohlen ist.". Als Luschan 1905, nur drei Jahre nach dem Ende des ,Burenkrieges', ins nun britische südliche Afrika reiste, nutzte er die Gelegenheit, um selbst dort „Menschen zu vermessen und Objekte für das Berliner Völkerkundemuseum zu erwerben." Wie selbstverständlich bediente sich Luschan der Macht der konkurrierenden Kolonialmacht. Seine Forschungen führte er in Polizeirevieren, Passämtern und Gefängnissen durch, also an Orten, die den Kolonisierten keine Möglichkeit ließen, sich „den erniedrigenden Praktiken Luschans und anderer Forscher, die ihm vorausgegangen waren oder nachfolgen würden, zu entziehen." Szenenwechsel: 2011 in Kairo: Luschans ägyptischer Kollege Zahi Hawass, langjähriger Direktor des Supreme Council of Antiquities, der zentralen Verwaltung archäologischer Besitzungen in Ägypten, fordert öffentlichkeitswirksam die Rückgabe der im Berliner Neuen Museum ausgestellten Büste der Nofretete. Sie war 1912 von Ludwig Borchardt und seinem Team in Amarna ausgegraben und im Zuge einer sogenannten Fundteilung nach Deutschland gebracht worden. Es gab sowohl konkrete Vorwürfe des Betrugs bei dieser Aufteilung archäologischer Funde als auch grundsätzliche, da nicht nur Ägypten damals unter britischer Herrschaft stand, sondern die staatliche ägyptische Antikenverwaltung von Franzosen geleitet wurde. Die Europäer hätten sich selbst also die Regeln gegeben, nach denen sie anschließend die archäologischen Funde untereinander aufteilten, so der Vorwurf. Rückgabeforderungen hatte es schon unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs gegeben. [...]

Dies ist ein Auszug aus: Geschichtskultur durch Restitution?, von Thomas Sandkühler, Angelika Epple und Jürgen Zimmerer.

Titel: Geschichtskultur durch Restitution?
Untertitel: Ein Kunst-Historikerstreit
Reihe: Beiträge zur Geschichtskultur, Band 40
Herausgeber: Thomas Sandkühler; Angelika Epple; Jürgen Zimmerer
Verlag: Böhlau Verlag
Köln, 2021
ISBN 97834128608 / ISBN 978-3-412-51860-8
Gebunden, 16 x 24 cm, 456 Seiten, mit 22 sw-/Farbabbildungen

Sandkühler, Thomas und Epple, Angelika und Zimmerer, Jürgen im Namibiana-Buchangebot

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