Umbruchzeiten, von Helmut Sydow

Umbruchzeiten, von Helmut Sydow.

Umbruchzeiten, von Helmut Sydow

Neu-namibisches Weihnachtsmärchen, aus dem Buch Umbruchzeiten von Helmut Sydow. Leute, die mich kennen, nennen mich Koevoet, wegen meiner Vergangenheit. In Wirklichkeit heiße ich Shilongo, Ephraim Lucky-Boy Shilongo.

Helmut Sydow  

Von Beruf bin ich Security Guard. Ich arbeite als Shift Supervisor in einem Einkaufszentrum in der Innenstadt. Es war der 24. Dezember. Um 12 sollte meine Schicht zu Ende sein, dann wäre ich mit einem Sammeltaxi in den Norden gefahren. So war es geplant, aber dann kam alles anders. Morgens, als ich mich zur Arbeit melde, ruft mich der Manager in sein Büro, hält mir das Kostüm eines Weihnachtsmannes hin und sagt, ich solle das anziehen, der Mann, den er bestellt habe, sei nicht aufgetaucht. Ich sage: „Aikona, seit wann ist Lucky-Boy Father Christmas", aber da legt er 250 Dollar auf den Tisch. „Hälfte jetzt, den Rest heute Mittag". Ich sage: „Das ist natürlich was anderes...", zieh mir das Kostüm über und komme mir ziemlich blöde vor. Wer hat schon jemals einen Vambo-Weihnachtsmann gesehen. Aber dann wieder, 250 Dollar sind das halbe Monatsgehalt. Als ich mich umgezogen habe, deutet der Manager auf einen Sack mit was drin.

Ich stelle mich dumm wie nur jemand aus Ombalantu sich dummstellen kann und sage: „Nou, hoe nou? Lucky-Boy nie mooi verstaan nie?", und schon fängt er an zu erklären: „Du gehst durch die Gänge, rufst ,Ho-Ho-Ho-Father Christmas is here', und wenn du ein Kind siehst, verstehst du, wenn die Augen groß und rund sind und es sich hinter seiner Mutter versteckt, weil es Angst hat, greifst du in den Sack hier - so, siehst du -, holst eines der Päckchen raus und reichst es ihm.

Dabei streichst du ihm über den Kopf, brummst ,Ho-Ho-Ho', und lächelst die Mutter an. Dann wird es schon klappen. Verstanden?" Ich lache und sage mir, wenn die Firma bereit ist, für so was Geld auszugeben, wer bin ich, mich zu weigern, Weihnachts-Wachmann zu spielen.

Während ich wie ein Kalb auf der Suche nach seiner Mutter durch die Gänge trabe, „Ho-Ho-Ho" rufe und Geschenkpäckchen an Kinder verteile, die mich höchstwahrscheinlich für Luzifer im Schlafanzug halten, sehe ich, wie sich jemand über das Geländer der Rolltreppe im zweiten Stock lehnt. Das ist verboten. Das hat man zu wissen, denn ein Schild weist darauf hin. Ich schnappe mir den Kerl und bringe ihn runter ins Büro - typischer Botsotso, mit 'ner Balaclava runtergezogen bis auf die Augenbrauen und vollgekifft bis unter die Haarwurzeln.

Der Manager verwarnt ihn, erzählt ihm was von „Heute ist Weihnachten, da werden wir nachsichtig sein" und lässt ihn laufen. In dem Augenblick kommt der Buchhalter vorbei und ruft durch die offene Tür: „Kobus, ich brauche einen Wachmann. Die Bank macht in fünfzehn Minuten zu." Der Manager sieht sich um und der einzige Wachmann, den er sieht, bin ich. „Ah, Koevoet", sagt er, „das trifft sich gut. Geh mit Mister Schuster zur Bank. Aber denk dran: Heute bist du Weihnachtsmann. Also immer recht freundlich! O.K.!?"

Der Buchhalter, der Mister Schuster, der ist in Ordnung. Wenn in der heißen Zeit die Wolken aufkommen, fragt er immer, wenn wir uns sehen: „Ephraim, sag mal, was hörst du von deiner Frau, hat es im Vamboland schon geregnet?" Das ist gut. Das mag ich. So reden Männer, die was von Landwirtschaft verstehen. Vor ein paar Jahren, als ich neu in meinem Job war, hatte er noch getrunken. Da war er anders. Voll bedonnert und uppity-white. Aber jetzt, wo er nicht mehr trinkt, scheint er das Licht gesehen zu haben. Ich gehe neben ihm her und halte meinen Schlagstock in der Hand, für alle Fälle, da sagt er zu mir: „Heute ist mein letzter Arbeitstag." Ich lache und sage: „Meiner auch." Er bleibt stehen, sieht mich so halb komisch an und meint: „Nein, du verstehst nicht. Ich gehe in Pension. Nach heute bin ich fertig mit Arbeiten, für immer."

„Und, freust du dich?" frage ich, um nicht unhöflich zu sein. Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, so wie die Deutschen es immer tun. „Freuen? Ich mich freuen? Ein Mann, dem Frau und Kinder weggelaufen sind? Da kann ich mich genauso gut auf mein Begräbnis freuen."

Während ich noch über seine Worte nachdenke, steht plötzlich der Botsotso von eben vor uns. Seine Pupillen sind starr und groß wie Fünfdollarstücke. Ich rufe: „Voetseck vuilgoed, mach, dass du wegkommst", aber er bleibt stehen, greift in die Tasche und zieht eine Pistole. Mir verkrampfen sich die Gedärme, aber was soll's. Sich mit solchem Lowlife auseinanderzusetzen ist Teil meiner Arbeit und außerdem: Zu irgendetwas muss meine Ausbildung ja gut sein. Der Kerl zielt auf mich, dann auf Mister Schuster, dann wieder auf mich.

Ich nehme den Geschenkesack vom Rücken, halte ihn mir vor die Brust und gehe auf ihn zu. Er weicht einen Schritt zurück, ignoriert mich aber ansonsten und ruft Mister Schuster zu: „Ek se broer, gee die Geld". Mit der freien Hand macht er so Bewegungen, als wolle er Mister Schuster beim Einparken helfen. Neben mir schwingt Mister Schuster die Aktentasche und will den Botsotso umhauen. Jetzt wird es eng, denke ich. Mit der freien Hand greife ich Mister Schuster am Arm und halte ihn zurück.

„Stadig meneer, dis my job hierdie." Dabei geht mir durch den Kopf - warum weiß ich nicht -, dass der gute Mann hier womöglich den Helden spielen will. Auf dem Grabstein würde dann stehen:, In selbstloser Aufopferung hat er sich bis zuletzt für die Firma eingesetzt. Wie auch immer. Weil ich wohl etwas zu hart zupacke, rutscht Mister Schuster aus und fällt. In dem Augenblick schießt der Botsotso.

Die Kugel geht über Mister Schuster weg und trifft den Sack vor meiner Brust. Ich höre es klirren, Frauen und Kinder schreien. Mit einem Sicheltritt nehme ich dem Mann die Beine weg. Er fällt rücklings hin, es macht ,Rums' und eine der Kacheln hat plötzlich einen Sprung. Die Pistole klappert über den Boden ins Abseits. Der Kerl bleibt liegen. ,Für den ist Weihnachten Vergangenheit', würde ich mal sagen.

Ich helfe Mister Schuster auf. Er hält meine Hand fest wie ein Ertrinkender. „Ephraim" sagt er mit zitternder Stimme, „du bist die Nummer Eins, ich schulde dir." Aber dann fängt der Ärger erst richtig an. Der Manager will alles ganz genau wissen. Inzwischen vergeht die Zeit. Dann kommt die Polizei. Die schreibt alles auf. Irgendwann ist es nach Zwölf und mein Lift ist weg. Ich werde ungemütlich und fange an zu schimpfen. Der Polizist plustert sich auf und will was sagen, da meint Mister Schuster: „Ephraim: Beruhige dich. Ich fahr dich. Mein Auto hat einen riesigen Kofferraum - groß genug für all deinen Klimbim."

„Das ist nicht dein Ernst!?"
„Doch!"
„Du willst mich 800 Kilometer up North fahren - in deinem Merc - einfach so?!"
„Warum nicht? Heute ist Weihnachten. Außerdem: Ich habe nichts Besseres zu tun. Und für deine Kinder nehmen wir den Sack mit den Geschenken mit."

Er wendet sich dem Manager zu und sagt in einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet: „Nicht wahr, Kobus?" Der Manager begreift schnell und nickt. „Übrigens, Koevoet", sagt er, „den Anzug, den kannst du behalten. Deine Kinder werden sich freuen, einen richtigen Weihnachtsmann zum Vater zu haben."

Ich sehe die beiden an, will mich bedanken, aber dann fällt mir ein: Ich kriege ja noch Geld. „Ach ja", sagt der Manager, greift in die Hosentasche und zählt zehn rote Witboois von einem Bündel Noten ab. „Hier: Dein Sonderbonus und die 125, die ich dir schulde." Mister Schuster nickt mir zu, dreht sich um und geht in Richtung Tür. Im Vorbeigehen meint er halblaut zu dem Manager: „Vielleicht wäre ein Dankeschön mit Händedruck nicht ganz unangebracht. Übrigens, nur zu deiner Information: Der Mann heißt Shilongo, Ephraim Shilongo, nicht Koevoet."

Der Manager stutzt, mustert mich einen Augenblick lang und sagt dann unvermittelt: „Vielen Dank für deinen Einsatz, Shilongo, äh, Ephraim. Die Firma weiß deine Haltung zu schätzen." Er hält inne und schluckt. Dann reicht er mir die Hand und fügt hinzu: „Ich natürlich auch. Happy Christmas!"

Neu-namibisches Weihnachtsmärchen ist ein Auszug aus dem Buch: Umbruchzeiten, von Helmut Sydow.

Buchtitel: Umbruchzeiten
Autor: Helmut Sydow
Kuiseb-Verlag
Windhoek, Namibia 2010
ISBN 978-99916-826-3-5 Namibia
ISBN 978-3-941602-38-0 Europa
Broschur, 15x21 cm, 180 Seiten

Sydow, Helmut im Namibiana-Buchangebot

Namibia fürs Handgepäck

Namibia fürs Handgepäck

Südafrika fürs Handgepäck ist eine Sammlung von Auszügen aus Klassikern der südafrikanischen Literatur.

Hauptsache Windhoek

Hauptsache Windhoek

Die Sammlung Hauptsache Windhoek enthält drei Dutzend Geschichten und Gedichte über die Hauptstadt Namibias.

Umbruchzeiten. Kurzgeschichten und kurze Geschichten

Umbruchzeiten. Kurzgeschichten und kurze Geschichten

Umbruchzeiten im Alltag von Namibia, Kurzgeschichten mit schönen, abstoßenden, subtilen und beißenden Facetten.

Treibholz. Geschichte einer Freundschaft und einer Liebe

Treibholz. Geschichte einer Freundschaft und einer Liebe

Treibholz: Ein Namibia-Roman über die Freundschaft zwei Männer, die Mitte der 1920er Jahre in Südwestafrika Diamanten schmuggeln und ihrer Liebe zu den Frauen.

Weitere Buchempfehlungen

Ich werde dich Fürstin nennen

Ich werde dich Fürstin nennen

'Ich werde dich Fürstin nennen' ist eine Erinnerung an einen kleinen grauen unpolierten liebenswerten afrikanischen Elefanten.

Am Finger Gottes

Am Finger Gottes

Roman über Geld, Macht und Liebe im südlichen Afrika der 30er Jahre

Du weitest Deine Brust, der Blick wird freier. Kriegs- und Wanderfahrten in Südwest

Du weitest Deine Brust, der Blick wird freier. Kriegs- und Wanderfahrten in Südwest

Das Original dieses bearbeiteten Neudrucks erschien 1909 unter dem Titel 'Du weitest Deine Brust, der Blick wird freier. Kriegs- und Wanderfahrten in Südwest'.

The Hopeless Hopes

The Hopeless Hopes

The Hopeless Hopes is a fictional story of one man's struggle to take care of his family before and after Namibia's independence.