Kolonialismus und Kannibalismus: Fälle aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea 1884-1914, von Simon Haberberger
Kolonialismus und Kannibalismus: Fälle aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea 1884-1914, von Simon Haberberger. Aus dem Vorwort des Reihenherausgebers, Prof. Hermann Joseph Hiery:
„Philosophen, die den Menschen nur von ihrer Studierstube her kennen, haben dreist behauptet, daß es nie Menschenfresser gegeben habe, selbst unter unseren Reisegefährten waren Zweifler. [...] jetzt, da wir es mit eigenen Augen gesehen haben, kann man nicht mehr daran zweifeln."
Das schrieb einer der bekanntesten deutschen Südseereisenden, Georg Forster, nachdem er am 22. November 1773 an Bord der Resolution durch Bewohner der Insel Motuarohia in der neuseeländischen Bay of Islands persönlich einen Akt von Kannibalismus beobachtet hatte. Alle Argumente und Reaktionen, die die Diskussion der Europäer über den Kannibalismus bis in die Gegenwart bestimmten, kamen schon damals vor. Der aufgeklärte Forster klagte über jene Mitreisenden, die „auf die Menschenfresser unvernünftigerweise so erbittert [waren], daß sie die Neuseeländer alle totzuschießen wünschten, als ob sie das Recht hätten, über das Leben eines Volkes zu gebieten, dessen Handlungen nicht einmal vor ihren Richterstuhl gehörten." Europäer seien moralisch keineswegs besser, „finden wir es weder grausam noch unnatürlich, zu Felde zu ziehen und uns zu Tausenden die Hälse zu brechen, bloß um den Ehrgeiz eines Fürsten oder die Grillen seiner Mätresse zu befriedigen." In der Tat kann es bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen Kannibalismus nicht darum gehen, moralische Argumente auszutauschen. Die Herangehensweise von vorgestern, die vielen Nichteuropäern pauschal Kannibalismus unterstellte, um sie als „Wilde" zu diffamieren und damit das Vorgehen der Europäer ebenso pauschal rechtfertigen zu können, ist diesem Phänomen ebenso unangemessen wie die Herangehensweise von gestern, die summarisch eine Verhaltensidentität von Europäern und Nichteuropäern unterstellte und damit letztendlich das europäische Verhalten als das einzig universale reklamierte. Vielleicht war es kein Zufall, daß gerade Amerikaner - wie Arens - ihre eigene Werteordnung unbedenklich auf andere übertrugen und ihrer Sicht universellen Charakter zusprachen. Die Negierung der Existenz alternativer Wertevorstellungen ist eine Sonderform des Eurozentrismus, eurozentrisch ist sie allemal. Simon Haberberger untersucht in der vorliegenden Arbeit, ursprünglich eine an meinem Lehrstuhl entstandene Dissertation, das Verhalten der deutschen und britischen bzw. australischen Kolonialverwaltung gegenüber Kannibalismus und Kannibalismusvorwürfen in Neuguinea vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Kolonialverwaltung war in ihrem Verhalten zunächst eher zurückhaltend; die Pflicht zur staatlichen Verfolgung von Totschlag und Mord existierte in Neuguinea lange Zeit faktisch noch nicht einmal auf dem Papier. Das belegt zum einen die engen Grenzen, die der europäischen Kolonialherrschaft" gesetzt waren. Zum anderen zeigt Haberberger, daß es nicht nur die sattsam bekannte europäische Pauschal-Verurteilung des „wilden" Kannibalen gab, sondern auch ein rechtliches und administratives Eingehen auf kulturelle Andersartigkeit. Der Kern eurozentrischen Handelns blieb gleichwohl unangetastet: die anfängliche Zurückhaltung, in indigene Konflikte einzugreifen - selbst wenn Fälle von Kannibalismus gemeldet wurden - kontrastierte ganz auffällig mit der Hyperaktion, die Berichte von Kannibalismus an Europäern hervorriefen. Haberbergers Untersuchung zeitigt eine Fülle von interessanten Fällen. Für das ehemalige deutsche Kolonialgebiet scheint mir der schon von Thurnwald beschriebene Vorgang auf der Insel Nissan der interessanteste. Haberbergers eigene Forschungen bilden wichtige Korrekturen und Ergänzungen zu Thurnwalds Aufzeichnungen. Insbesondere wird deutlich, daß das Verschwinden des Kannibalismus nicht allein auf das Vorgehen der deutschen Kolonialverwaltung zurückzuführen ist, sondern auf einer autonomen Entscheidung der indigenen Elite beruhte. Hinsichtlich des britischen Teiles von Neuguinea kommt Haberberger u.a. zu dem Ergebnis, daß im bekannten Fall des Missionars Chalmers ziemlich sicher gar kein Kannibalismus vorlag. In der Wissenschaft gibt es selten nur ein entweder - oder, sondern meist ein sowohl - als auch. Das gilt selbst im vorliegenden Falle, in dem ein Historiker versucht hat, sich dem Phänomen Kannibalismus im konkreten Umfeld des europäischen Kolonialismus anzunähern. [...]
Dies ist ein Auszug aus: Kolonialismus und Kannibalismus: Fälle aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea 1884-1914, von Simon Haberberger.
Titel: Kolonialismus und Kannibalismus
Untertitel: Fälle aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea 1884-1914
Autor: Simon Haberberger
Reihe: Quellen und Forschung zur Südsee. Reihe B: Forschungen, Band 3
Verlag: Harrassowitz Verlag
Wiesbaden, 2007
ISBN 3447055782 / ISBN 3-44-705578-2
ISBN 9783447055789 ISBN 978-3-44-705578-9
Broschur, 24 × 17 cm, 235 Seiten, einige sw-Abbildungen
Haberberger, Simon im Namibiana-Buchangebot
Kolonialismus und Kannibalismus: Fälle aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea 1884-1914
Kolonialismus und Kannibalismus: Erforschung von Vorfällen aus Deutsch-Neuguinea und Britisch-Neuguinea aus der Zeit von 1884 bis 1914.
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