Träume der Gewalt, von Anne D. Peiter

Träume der Gewalt. Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg, von Anne D. Peiter. transcript Verlag. Bielefeld, 2020. ISBN 9783837645675 / ISBN 978-3-8376-4567-5

Träume der Gewalt. Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg, von Anne D. Peiter. transcript Verlag. Bielefeld, 2020. ISBN 9783837645675 / ISBN 978-3-8376-4567-5

Das vorliegende Buch, Träume der Gewalt, von Anne D. Peiter, ist ein Beispiel für UnVerhältnismäßigkeit. Es geht aus von einem Hörspiel, das erstmals Anfang der 1950er Jahre vom Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde - Träume, geschrieben von Günter Eich.

Die Buchfassung dieses Hörspiels beträgt keine 50 Seiten. Doch ihre Analyse nimmt Raum ein. Viel Raum. Unverhältnismäßig viel? Das ist zu hoffen, denn die Lektüre, die vorgeschlagen wird, zielt nicht eigentlich darauf, sich und andere Leserinnen zu den Träumen ins Verhältnis zu setzen. Vielmehr möchte sie auf kleine und kleinste Motive, Anspielungen, mitunter gar auf einzelne Worte mit UnVerhältnismäßigkeit antworten: „Entstellungen in Richtung Wahrheit". Unverhältnismäßigkeit bedeutet, dass, obwohl doch das Lesen von Schrift etwas Planes, Zweidimensionales ist, die Annäherung an die Träume auf eine dritte Dimension angewiesen ist: Über einzelnen Worten türmt sich die Analyse, wie ein Berg. Das Nachdenken über den eichschen Text ist gleichsam unfähig, sich mit der Fläche des Papiers zu begnügen, das ihm zur Verfugung steht. Es nimmt das von Eich Gedruckte zum Anlass, Bausteine zu so etwas wie einer Interpretation zusammenzutragen und sie (nämlich die Steine) über den einzelnen Motiven, Anspielungen, Worten übereinan-derzuschichten, höherund höher. Diese Anhäufung ist jedoch derart exzessiv, dass der Ausgangstext unter ihnen begraben wird: Die Träume verschwinden unter der Interpretation, statt durch sie klarer hervorzutreten. On couvre au lieu de decouvrir. Die Interpretation bringt den Text nicht ans Licht, sondern nimmt ihm dieses. Die Analyse zielt, mit anderen Worten, darauf, auf dem Text zu lasten, ihn zu belasten, und nicht etwa darauf, dem Autor oder dem, was er geschrieben hat, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nicht umsonst ist der Begriff der „Unverhältnismäßigkeit" ein juristischer. Im Kontext von Prozessen bedeutet er, dass eine Strafe, die nach Analyse der belastenden Beweise über eine Person verhängt wird, in keinem Verhältnis zur Schwere der von ihr begangenen Tat steht. Unverhältnismäßigkeit impliziert also Ungerechtigkeit. Eine Strafe darf nicht unverhältnismäßig sein, sie muss versuchen, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem, was zur Beurteilung steht, und dem, worin das Urteil besteht. Die vorliegende Interpretation vergeht sich in diesem Sinne am Recht. Sie ist sich bewusst, die Dinge zu schwer zu nehmen. [...] Auf der anderen Seite ist die Problematik des Ernstes etwas, was der Interpretation voll bewusst ist. Sie weiß, dass sie unverhältnismäßig auf den Text reagiert. Ja mehr noch: Sie weiß, dass sie in gewisser Weise gar nicht auf den Text reagiert, sondern dass winzigste Anlässe zu einem Ausbruch fuhren, den die Interpretin selbst zu verantworten hätte. Diese Verantwortung wird übernommen. Zur Grundannahme der vorliegenden Analyse gehört es nämlich, dass das Buch in , Wirklichkeit' gar keines über Günter Eich ist, sondern vielmehr eines über unterschiedliche Facetten der Gewalt in der deutschen (und europäischen) Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Es geht um Kolonialismus und Genozid, um Krieg und Vernichtung, um Rassismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Die Träume sind nichts als der Auslöser für ganz Anderes. Das Buch beschäftigt sich mit vielen anderen Autorinnen und Autoren, mit historischen Zeugnissen und Dokumenten, die stets mehr Raum einnehmen als der literarische Ausgangstext selbst. Doch weil das so ist, rechtfertigt sich letzten Endes doch, warum die Analyse so unverhältnismäßig reagiert: Weil die Trilogie über Eich in Wirklichkeit nicht so sehr oder vielleicht auch gar nicht eine Trilogie über ihn ist, sondern eine über Kolonialismus und Genozid, Krieg und Vernichtung, ist der übertriebene Ernst keineswegs übertrieben, sondern stets noch zu schwach, unzureichend und keineswegs vermessen. Unverhältnismäßig ist zu reagieren, weil die historischen Ereignisse, an denen sich die Literatur und dann auch die Wissenschaft von ihr abarbeiten, alle bisherigen Verhältnisse gesprengt und zerstört haben. Die Analyse häuft Stein auf Stein, bis hin zum Moment, in dem der Text erdrückt wird, weil das, wovon zu sprechen ist, selbst so erdrückend und unverhältnismäßig ist. [...]

Dies ist ein Auszug aus: Träume der Gewalt, von Anne D. Peiter.

Titel: Träume der Gewalt
Untertitel: Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg
Autorin: Anne D. Peiter
Verlag: transcript Verlag
Bielefeld, 2020
ISBN 9783837645675 / ISBN 978-3-8376-4567-5
Broschur, 15 x 23 cm, 1104 Seiten

Peiter, Anne D. im Namibiana-Buchangebot

Träume der Gewalt

Träume der Gewalt

Träume der Gewalt: Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg.