Namibias Kinder, von Michaela Fink und Reimer Gronemeyer

Namibias Kinder: Lebensbedingungen und Lebenskräfte in der Krisengesellschaft, von Michaela Fink und Reimer Gronemeyer. transcript Verlag. Bielefeld, 2020. ISBN 9783837652543 / ISBN 978-3-8376-5254-3

Namibias Kinder: Lebensbedingungen und Lebenskräfte in der Krisengesellschaft, von Michaela Fink und Reimer Gronemeyer. transcript Verlag. Bielefeld, 2020. ISBN 9783837652543 / ISBN 978-3-8376-5254-3

Namibias Kinder: Lebensbedingungen und Lebenskräfte in der Krisengesellschaft, von Michaela Fink und Reimer Gronemeyer.

Reimer Gronemeyer  Michaela Fink  

In einem Bericht von 2011 gibt UNICEF die Zahl der OVC (orphans and vulnerable children) in Namibia mit 250.000 an (das entspricht 26 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren). Der Bevölkerungszensus von 2011 spricht von einem Landesdurchschnitt von 13 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, die zum Erhebungszeitpunkt Halb- oder Vollwaisen waren (Vollwaisen waren 2,7 Prozent). Die Mehrzahl der Waisen hat einen Elternteil oder beide Elternteile infolge der HIV/AIDS-Epidemie verloren. Die meisten Waisen lebten in den ländlichen Regionen im Norden Namibias -absolut und relativ, bezogen auf die höhere Bevölkerungsdichte. In absoluten Zahlen lebten von 124.320 Halb- und Vollwaisen 35.785 in städtischen und 88.535 in ländlichen Regionen. Die Ergebnisse der Interviews lassen indessen vermuten, dass die Lage viel zugespitzter ist als die offiziellen Statistiken erkennen lassen. So berichtet etwa der Leiter einer Schule im Dorf Epinga, die mitten im Busch liegt, dass von den 365 Schülerinnen 120 Halb- oder Vollwaisen sind (32,8 Prozent). Nicht nur die Zahl der Waisen, sondern auch die Zahl der OVC insgesamt ist in den nördlichen Regionen am höchsten (Ohangwena 33 Prozent, Caprivi 42 Prozent, Omusati 34 Prozent, Oshikoto 32 Prozent, Kavango 31 Prozent). Die Versorgung von Kindern im familialen Kontext (kinship care) ist nach wie vor verbreitet in Namibia. Allerdings verändern rasche Modernisierungsprozesse diese kulturelle Praxis. Es ist für viele Kinder ganz selbstverständlich, bei Verwandten oder anderen Pflegepersonen zu leben und nicht bei den biologischen Eltern. Die OVC-Krise, die ihre Ursache in der HIV/AIDS-Epidemie und im raschen Zerfall traditioneller Familienkonstellationen hat, hat die Notwendigkeit, nichtbiologische Kinder aufzunehmen, einerseits verstärkt; gleichzeitig scheinen die Bereitschaft und die materiellen Möglichkeiten, Kinder aufzunehmen, zu schrumpfen. Die namibische OVC-Expertin und Kinderheimleiterin Rosa Namises glaubt, dass der afrikanische Gemeinschaftssinn (ubuntu) ausstirbt. Das zeige sich auch daran, dass die Menschen immer weniger bereit seien, Kinder aufzunehmen und sich um Kinder in Notlagen zu kümmern. In der Sprache der Ovambo - der größten Bevölkerungsgruppe Namibias - heißt die kulturelle Praxis des Weggebens und Aufnehmens von Kindern ohutekulwa. Okutekulwa kann man mit taming (zähmen) übersetzen. Weggegeben werden Kinder insbesondere an Großmütter. Viele Waisen gehören zur Gruppe der vulnerable children (wir bleiben bei der englischen Formulierung, weil sie schlecht ins Deutsche zu übersetzen ist), die Unterstützung und Pflege benötigen. Doch ein Waisenkind zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, mangelversorgt zu sein. Zugleich gehören zur Gruppe der vulnerable children auch Nicht-Waisen, deren Eltern nicht in der Lage sind, sich um die Kinder zu kümmern - etwa, weil sie alkoholabhängig oder krank sind oder weil sie in extremer Armut leben. Vernachlässigung und sexueller Missbrauch sind die Grunderfahrung vieler vulnerable children. Kulturelle Traditionen der Höflichkeit und des Gehorsams gegenüber Autoritäten machen es Mädchen und Jungen schwer, Belästigungen von Autoritäten zurückzuweisen. Obwohl OVC oft von Verwandten versorgt werden, erfahren sie im Vergleich zu den biologischen Kindern im Haushalt nicht selten eine diskriminierende Behandlung - zum Beispiel im Blick auf das Essen oder andere Formen materieller Unterstützung, bei der Hausarbeit und in der schulischen Bildung. Die Diskriminierung hat auch Ursachen in der Überlastung der Familien in schwierigen Zeiten. HIV-positive Kinder oder Kinder, die einen Elternteil verloren haben, erfahren auch von ihren Altersgefährten oft Diskriminierung und sie werden bisweilen in der Schule gemobbt. Obwohl die Regierung Kindern in schwierigen Lebenslagen bis zu ihrem 18. Lebensjahr eine kleine Beihilfe - den child welfare grant - gewährt, bekommen viele betroffene Kinder die monatliche Beihilfe in Höhe von 250 N$ nicht. Dafür gibt es verschiedene Gründe. So haben zum Beispiel viele Kinder nicht die dafür nötigen Dokumente (Geburtsurkunde, Personalausweis und Sterbeurkunde der verstorbenen Eltern oder des verstorbenen Elternteils). [...]

Dies ist ein Auszug aus: Namibias Kinder, von Michaela Fink und Reimer Gronemeyer.

Titel: Namibias Kinder
Untertitel: Lebensbedingungen und Lebenskräfte in der Krisengesellschaft
Autoren: Michaela Fink, Reimer Gronemeyer
Verlag: transcript Verlag
Bielefeld, 2020
ISBN 9783837652543 / ISBN 978-3-8376-5254-3
Broschur, 21 x 15 cm, 214 Seiten, 1 sw-Abbildung, 19 Farbabbildungen

Fink, Michaela und Gronemeyer, Reimer im Namibiana-Buchangebot

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