Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945, von Wolfgang U. Eckart.
In seiner Studie 'Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945' zeichnet Prof. Dr. med. Wolfgang Uwe Eckart ein differenziertes Bild deutscher Medizin im Zeitalter des Imperialismus und seiner Nachwirkungen bis 1945
[...] Die deutsche Medizin erlebte in den Jahrzehnten um 1900 auf vielen Ebenen eine stürmische Entwicklung. Der Aufstieg der Ärzte zu einer anerkannten akademischen Profession auf der Grundlage naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten war weitgehend abgeschlossen, die Klinik schickte sich an, mit neuen diagnostischen Methoden und therapeutischen Möglichkeiten ihre alte Begrenztheit zu überwinden, das Sozialversicherungssystem des Kaiserreichs schließlich war mustergültig in seiner Zeit. In zahlreichen Studien hat sich die Medizingeschichte dieser bedeutenden Epoche am Beginn der Moderne angenommen, hat ihre Bedingungen und Ergebnisse kritisch hinterfragt und hat es auch an Würdigung nicht fehlen lassen. Daß es neben dieser deutschen Medizin in jener Zeit auch eine andere deutsche Medizin, nämlich die an der kolonialen Peripherie des Kaiserreichs, gegeben hat, ist merkwürdigerweise bis heute kaum beachtet worden. Dabei wäre es doch reizvoll gewesen, die praktische Bewährung einer auf der internationalen Bühne unbestritten erfolgreichen Medizin auch in der mehr oder weniger verborgenen Extremsituation unter den Bedingungen der klimatisch-geographischen, aber auch der anthropologischen Fremde historisch-kritisch in den Blick zu nehmen. Dieser Versuch ist nicht unternommen worden. Statt dessen ist die deutsche Kolonialmedizin bis heute vom Nimbus der Abenteuerlichkeit und des selbstlosen, entbehrungsreichen Einsatzes deutscher Ärzte fern der Heimat umgeben. Man denkt an das Klischee vom Urwalddoktor, an Robert Koch in Afrika, an gefährliche Tsetse-Fliegen, dämonische Medizinmänner und blutsaugende Moskitos oder an Lambarene. Die Entstehung solcher Scheinwelten ist rekonstruierbar. Sie fußt auf der Verbitterung über den Verlust der deutschen Schutzgebiete im Ersten Weltkrieg und auf der revisionistischen Überhöhung kolonialer Pionierleistungen besonders auf tropenmedizinischem Gebiet in der Weimarer Republik und im NS-Staat, findet Nahrung in der Albert-Schweitzer-Hagiographie der fünfziger und sechziger Jahre, ist Reflex auf die vergebliche Suche der frühen medizinischen Entwicklungshilfe nach historischen Wurzeln. Doch die Realität deutscher Kolonialmedizin in Afrika, China und im Pazifik zwischen 1884 und 1918 sah völlig anders aus. Der pragmatische Druck, zur Lebenserhaltung deutscher Handelsvertreter, Kolonialbeamter, Schutztruppensoldaten und Missionare Ärzte für die Arbeit in Übersee zu gewinnen und medizinale Infrastrukturen zu errichten, bestimmte ihre Anfangsphase. Bislang unbekannte Tropenkrankheiten forderten die koloniale Medizinalverwaltung heraus. Wissenschaftlicher Ehrgeiz junger Ärzte einer bakteriologisch erfolgreichen Nation nutzten ihre Chance und experimentierten mit gefährlichen neuen Medikamenten in den Schlafkrankheits-„Konzentrationslagern“ und Lepraasylen in Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika. Therapieverweigerer bestraften sie selbst unnachgiebig mit dem Tauende. Mediziner machten sich rassistische Ideen zu eigen, beteiligten sich am Genozid in Südwestafrika, stützten durch ihre Malaria- und Rassegutachten die rechtswidrige Enteignung der Duala in Kamerun, flickten von cholerischen Kolonialbeamten angeschossene Arbeiter im Pazifik zusammen, nur um sie der Ausbeutung deutscher Plantagengesellschaften wieder verfügbar zu machen. "Schwarze Arme, weiße Köpfe" lautete das Motto, unter dem sich die Medizin in den Dienst der kolonialen "Menschenökonomie" stellte. Manch Missionsarzt mühte sich redlich, durch ärztliche Hilfe Proselyten zu gewinnen, und fluchte zugleich auf die arbeitsfaulen, "kreuzdummen aber dennoch hochmütigen und frechen" Neger, wie etwa Friedrich Hey, Arzt der Basler Mission in Kamerun. Doch es gab nicht nur dieses Zerrbild deutscher Medizin an der Kolonialperipherie des Zweiten Kaiserreichs. Deutsche Ärzte mühten sich auch engagiert um die physische Not der ihnen Anbefohlenen. Sanitätsoffiziere der Schutztruppen in Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika widmeten ihre Arbeit oft auch der indigenen Bevölkerung und überschritten dabei bisweilen die dienstlich eng umrissenen Kompetenzen. Hunderttausende wurden gegen die Pocken geimpft. [...]
Dies ist ein Auszug aus dem Buch: Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945, von Wolfgang U. Eckart.
Titel: Medizin und Kolonialimperialismus
Untertitel: Deutschland 1884-1945
Autor: Wolfgang U. Eckart
Genre: Medizingeschichte
Verlag: Ferdinand Schöningh
Paderborn, 1997
ISBN 350672181X / ISBN 3-506-72181-X
ISBN 9783506721815 / ISBN 978-3-506-72181-5
Originalbroschur, 16 x 23 cm, 638 Seiten, 24 sw-Fotos, 6 Karten
Eckart, Wolfgang U. im Namibiana-Buchangebot
Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945
Medizin und Kolonialimperialismus: Deutschland 1884-1945 ist eine wissenschaftliche Abhandlung über die deutsche Medizingeschichte in den Kolonien.