Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odysee, von Lucia Engombe

Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odysee, von Lucia Engombe. Ullstein Verlag, 10. Auflage, Berlin 2013. ISBN 9783548258928 / ISBN 978-3-548-25892-8

Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odysee, von Lucia Engombe. Ullstein Verlag, 10. Auflage, Berlin 2013. ISBN 9783548258928 / ISBN 978-3-548-25892-8

Bildauszug aus Lucia Engombes Autobiographie Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odysee.

Bildauszug aus Lucia Engombes Autobiographie Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odysee.

Die Entsendung von Ovambo-Kindern in die DDR hatte die Bildung einer neuen SWAOP-Elite zum Ziel. Die Entwurzelung und das fremdbestimme Versetzen der Kinder in eine völlig fremde Umgebung war dabei nebensächlich und sollte sich im Jahr 2000 in umgekehrte Richtung, zurück in das inzwischen fremd gewordene Namibia, wiederholen. Die Autobiographie 'Kind Nr. 95: Meine deutsch-afrikanische Odysee' von Lucia Engombe ist ein ergreifender Bericht über die Tragik menschlichen Treibgutes und ideologischer Verklärung in der deutsch-namibischen Geschichte.

Lucia Engombe  

Ein Abenteuer, eine Reise!

Im Mai 1978 war ich fünfeinhalb Jahre und erlebte im Kindergarten gerade meine erste zarte Liebe. Er hieß Maxton. Ich fand, dass er ein gut aussehender Junge war, suchte seine Nähe und wir waren unzertrennlich. Auch Maxtons Eltern mochten mich und glaubten, dass wir später mal ein Ehepaar sein würden. Ich genoss es, dass mich außerhalb meiner Familie jemand wirklich gern hatte. Wir spielten gerade auf dem eingezäunten Gelände des Kindergartens, als Erwachsene aufgeregt riefen: »Los, los, Kinder, rennt in den Wald!« Maxton und ich fassten uns an den Händen und taten, was alle machten: Wir stürmten in den nahen Busch, wo uns die Erzieherinnen anwiesen, ganz still unter den dichten Ästen der Bäume auszuharren. Anfangs hielt ich das für ein neues, spannendes Spiel. Doch es wurde immer öfter wiederholt. Manchmal mussten wir stundenlang unter den Bäumen warten, bis wir wieder in den Kindergarten zurück durften. Schließlich wurde sogar ein durchsichtiges Zelt im Wald versteckt, riesengroß, damit möglichst viele Bewohner Nyangos darin Platz hatten. Mir wurde klar, dass der Spaß aufgehört hatte. Gelegentlich brummte ein Flugzeug ganz dicht über unser Flüchtlingslager hinweg. Sonst geschah nichts. Nur die ganz kleinen Kinder weinten und ich spürte, dass sogar die Erwachsenen große Angst hatten. Vor allem, wenn wir nachts in diesem Zelt bleiben mussten. Einmal besuchte ich Pena bei ihrer Ziehmutter, als es wieder Alarm gab. Ich packte sie mir auf den Rücken und wir flohen in den Wald. Und dann hörte ich auch schon das Brummen eines Flugzeugs. »Sei ganz still, Pena«, sagte ich. »Das ist bald vorbei und wir können wieder spielen.« In diesen Wochen wurden auf dem Appellplatz viele laute Reden gehalten, die Fäuste von Kindern wie Erwachsenen reckten sich energisch in den Himmel: »A luta continua! A vitaría é certa! Viva SWAPO!« Das hieß: Der Kampf geht weiter, der Sieg ist gewiss, es lebe die SWAPO. Ich wusste nicht, ob alle die portugiesischen Worte verstanden. Wir waren Ovambos und sprachen eine ganz andere Sprache. Es hatte letztlich keine wirkliche Bedeutung; es ging darum zusammenzuhalten. Rund 1500 Kilometer weiter westlich waren am 4. Mai 1978 in einem anderen SWAPO-Flüchtlingslager in Angola fast 600 Kinder und Frauen getötet und viele hundert verletzt worden. An diesem schrecklichen Tag hatten Bomber und Fallschirmjäger der südafrikanischen Armee das Lager Cassinga angegriffen, in dem sich nach damaligen SWAPO-Angaben 5000 Flüchtlinge aufgehalten hatten. Friedliche Menschen, die vor dem Krieg in Namibia in das befreundete Nachbarland entkommen waren. Ungefähr 250 Kilometer nördlich der Grenze zu Namibia hatten sie sich in Sicherheit gewähnt. Hunderte von Kindern wurden an diesem Tag zu Waisen; ich ahnte nicht, dass ich einmal mit einigen von ihnen die fast elf entscheidenden Jahre meines Lebens verbringen würde ... Bei uns in Nyango fielen keine Bomben; wir sahen die Spähflugzeuge am Himmel und lernten so die fiese kleine Schwester des Kriegs kennen - die Angst. Mit ihr lebten wir. Und mit dem Hunger, der nun zurückkam. Auch im Kindergarten schmolzen die Essensportionen. Selbst wenn ich ganz schnell aß, damit mir niemand etwas wegnahm, wurde ich niemals mehr satt. Für mich begann ein neuer Lebensabschnitt: Ich wurde eingeschult. An eine besondere Zeremonie erinnere ich mich nicht. Wohl aber an die Schläge mit dem Rohrstock, wenn ich zu spät zum Unterricht kam, weil ich verschlafen hatte. Was leider oft vorkam. [...]

Dies ist ein Auszug aus der Autobiographie: Kind Nr. 95. Meine deutsch-afrikanische Odysee, von Lucia Engombe.

Titel: Kind Nr. 95
Untertitel: Meine deutsch-afrikanische Odysee
Autoren: Lucia Engombe; Peter Hilliges
Ullstein Verlag
10. Auflage, Berlin 2013
ISBN 9783548258928 / ISBN 978-3-548-25892-8
Broschur, 11 x 18 cm, 381 Seiten, zahlreiche Abbildungen

Engombe, Lucia im Namibiana-Buchangebot

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