Guten Morgen, Namibia!, von Erika von Wietersheim

Guten Morgen, Namibia! Eine Farm, eine Schule und unser Weg von der Apartheid zur Unabhängigkeit. Erika von Wietersheim, Palmato Publishing, Hamburg, 2019. ISBN 9783946205302 / ISBN 978-3-946205-30-2

Guten Morgen, Namibia! Eine Farm, eine Schule und unser Weg von der Apartheid zur Unabhängigkeit. Erika von Wietersheim, Palmato Publishing, Hamburg, 2019. ISBN 9783946205302 / ISBN 978-3-946205-30-2

Der folgende Textauszug aus Guten Morgen, Namibia! von Erika von Wietersheim, stammt aus dem Kapitel 'Neuanfang (1976-1978)'.

Erika von Wietersheim  

[...] Lang-Isaak, so hieß der alte Mann, weil er im Gegensatz zu den meisten Menschen in dieser Gegend außergewöhnlich groß war, lebte schon seit über dreißig Jahren auf Farm Gras und arbeitete als Schafhirte für Anton von Wietersheim Eltern, die diesen Familienbesitz im Süden des Landes von Antons Großvater erworben hatten. Ich neigte mich hinunter und gab ihm die Hand. »Ab jetzt sagst du uns, was wir machen sollen«, erklärte er freundlich. »Und wenn wir krank sind, dann sorgst du für uns. Wir sind jetzt deine Kinder.« Ich schaute in sein Gesicht, eine Landschaft aus Falten und Schatten, und bekam ein beklemmendes Gefühl. Ich, 23 Jahre alt, die Mutter dieses alten Mannes? Während ich ihn noch unsicher anlächelte und irgendetwas stammelte, trat mein 72-jähriger, noch sehr rüstiger Schwiegervater aus dem Schafkraal und lud mich ein, mit ihm »mal über den Hof zu gehen.« Nachdem wir langsam, wie auf einem Spaziergang an den verschiedenen Wirtschaftsgebäuden - der Schmiede, der Fellkammer, der Autowerkstatt - entlanggeschritten waren, ohne ein Wort zu wechseln, begann er unvermittelt: »Du weißt, wer Pegasus ist?« »Ja«, antwortete ich leichthin, »ein geflügeltes Pferd.« »Gut. Dies hier ist nämlich kein Ort für fliegende Pferde. Und keiner für Träumereien. Und bitte sei dir über eins im Klaren: Dein Studium nützt dir hier nichts.« Der alte Herr, seine langen Beine in kniekurzen Hosen, seine Füße in abgetragenen, aber blank geputzten Schnürschuhen und grauen Socken, lief weiter, ohne mich anzuschauen. »Irgendetwas schon«, wagte ich zu entgegnen. »Ich denke...« »Am besten treibst du dir deine Flausen gleich aus dem Kopf«, schnitt er mir das Wort ab. »Wenn du hier überleben willst, hast du dich anzupassen.« Der Schwiegervater wusste von meiner Liebe zur Literatur und auch von meinen »sozialistischen Flausen«, die man mir an der liberalen südafrikanischen Universität Kapstadt angeblich in den Kopf gesetzt hatte - aber hier auf der Farm, das machte er deutlich, komme es auf andere Dinge an: hart arbeiten, seine Pflicht erfüllen, ein Vorbild für die Angestellten sein. Wilden Pferden, er blieb bei diesem Bild, vielleicht um mir zu zeigen, dass auch er literarisch gebildet war, würden hier Zügel und Zaumzeug angelegt bekommen, um wie alle anderen auf den vorgeschriebenen Wegen zu traben. »Das Gleiche gilt für junge Farmarbeiter«, belehrte er mich weiter. »Wenn sie hier anfangen, sind sie noch ungebändigt, aber mit der Zeit arbeiten sie gut mit uns zusammen.« Er sprach weder hämisch noch kalt oder aggressiv, sondern freundlich und sachlich, schritt weiter am Gemüsegarten entlang und grüßte den dort arbeitenden Gärtner mit einem höflichen Guten Morgen. Ich blieb stehen, betrachtete das majestätische, alte Herrenhaus, 1906 nach dem Vorbild eines norddeutschen Gutshauses erbaut, sah die hohen Eukalyptus- und die knorrigen Kameldornbäume vor den zahlreichen weiß gekalkten Wirtschaftsgebäuden, ließ meinen Blick über die Hügel schweifen, deren grasbewachsene Buckel silbrig in der Sonne glänzten, bis auf das braune Band des Fischflusses, das sich unterhalb des Hauses an hohen Felsmauern entlangwand. Jetzt, im Mai, war der Fluss nur ein breites Bett aus Sand und Geröll mit wenigen großen »Wasserlöchern«, in denen sich Welse und Weißfische tummelten. Aber im Januar, als wir auf der Farm unsere Verlobung gefeiert hatten, war er nach heftigen Regenfällen rauschend »abgekommen«. In einer ausladenden, meterhohen Front hatten sich Wassermassen gurgelnd und schäumend durch das trockene, sandige Flussbett geschoben und Spinnen, Käfer, Vögel und spielende Kinder aus dem Weg gejagt. Wir waren eine Weile vor der Flutwelle hergerannt, dann mussten wir ans Ufer springen und der Fluss rauschte an uns vorbei. Für mich war dieses Ereignis wie eine Ouvertüre zu einem neuen Leben voller Abenteuer und Überraschungen gewesen. Doch jetzt stand ich hier wie gelähmt. Innerhalb weniger Minuten war mir wie mit Hammerschlägen eingehauen worden, wie man mich sah. Für den schwarzen alten Mann war ich allmächtig, für den weißen alten Mann ein Nichts. Und schon am ersten Tag versuchte man mir die Flügel zu stutzen - der Schwiegervater durch seine Überheblichkeit, der alte Farmarbeiter durch seine Unterwürfigkeit. [...]

Dies ist ein Auszug aus: Guten Morgen, Namibia!, von Erika von Wietersheim.

Titel: Guten Morgen, Namibia!
Untertitel: Eine Farm, eine Schule und unser Weg von der Apartheid zur Unabhängigkeit
Autorin: Erika von Wietersheim
Genre: Erinnerungsliteratur
Verlag: Palmato Publishing
Hamburg, 2019
ISBN 9783946205302 / ISBN 978-3-946205-30-2
Kartoneinband, Schutzumschlag, 12 x 20 cm, 376 Seiten

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