Die verlorenen Jahre, von Giselher W. Hoffmann

Die verlorenen Jahre, von Giselher W. Hoffmann.

Die verlorenen Jahre, von Giselher W. Hoffmann.

Bereits 1990 schrieb Giselher W. Hoffmann die erste Ausgabe des Romans Die verlorenen Jahre, der von der Internierung der Deutschen in Südwestafrika 1939-1945 handelt.

Giselher W. Hoffmann  

1939. Dr. Gallant aß für sein Leben gern Fisch, am liebsten in Butter gebratenen und mit einer Remouladensoße garnierten Kabeljau. Und so erschien er an jenem Freitag, trotz seiner ungezählten Pflichten als Rechtsanwalt, Sprecher des Deutsch Südwest Bundes und Mitglied des Landesrates, pünktlich zum Mittagessen. Er entkorkte eine Flasche Tafelwein, setzte sich gutgelaunt zu seiner Frau an den Tisch und wollte sich gerade eine halbierte Salzkartoffel in den Mund schieben, als hinter ihm die Stimme des Nachrichtensprechers, verzerrt vom Rauschen und Summen der Statik, den Zweiten Weltkrieg ankündigte. Edith sah die halbierte Salzkartoffel auf der Gabel ihres Mannes tanzen, sah den Happen von den Zinken rutschen und auf den Teller zurückfallen. In dem Moment klingelte das Telefon. Der Rechtsanwalt ließ die Hand sinken, eine klobige Hand, die nach der Serviette tastete und seine Lippen abtupfte, ehe er sich erhob und ins Wohnzimmer eilte, mit dumpfen Schritten, die noch durch das Haus hallten, als er sich bereits meldete: "Gallant!" - "Unsere Truppen haben heute morgen die polnische Grenze überschritten!", rief Ernst Dressel, der Führer des Deutsch Südwest Bundes. "Ja, ich hab's gehört", antwortete der Rechtsanwalt. "Wir müssen schleunigst eine Sitzung einberufen, damit wir alles im Detail besprechen können." - "Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich die anderen Mitglieder zusammengetrommelt habe." - "Danke."

Gallant legte auf und kam in das Esszimmer zurück, wo ihn seine Frau mit aschfahlem Gesicht erwartete. Er blieb hinter dem Stuhl stehen und klammerte sich an die Lehne. Gallant war ein stämmiger Mann, mit kurzgeschorenem Haar und einem fleischigen, freundlichen Gesicht. Es strahlte die Ruhe eines Mannes aus, der es gewohnt war, in kritischen Situationen wohldurchdachte Entscheidungen zu treffen. Aber seine verkrampfte Haltung verriet, dass ihn die Nachricht ebenso erschüttert hatte wie seine Frau. "Was, glaubst du, wird jetzt geschehen?", flüsterte sie. "Nichts", behauptete er. "Die Union von Südafrika hat sich in der Sudetenland-Krise neutral verhalten und wird es auch weiterhin tun. Außerdem besagt das Londoner Abkommen von 1923, dass alle automatisch naturalisierten Deutschen als südafrikanische Bürger anerkannt und für die nächsten dreißig Jahre vom Kriegsdienst befreit worden sind." - "Das stimmt", sagte Edith, und er sah, wie Hoffnung in ihr aufkeimte. Er verharrte eine Weile reglos hinter dem Stuhl und erfreute sich am Glanz ihrer Augen, der ihm schließlich gestattete, den Raum mit festen Schritten zu verlassen. Und als er über den Flur zu seinem Büro ging, fiel ihm auf, dass er einen Moment lang nicht an den Krieg gedacht hatte.

Er setzte sich im Büro hinter einen Schreibtisch aus solidem Eichenholz. Hier hatte er, behaglich im Lederfauteuil zurückgelehnt, viele Stunden seines Lebens verbracht und dabei stets das trügerische Gefühl genossen, von undurchdringlichen Mauern umgeben zu sein. Heute folgte ihm jedoch die Stimme des Radiosprechers ins Versteck und warf Fragen in ihm auf, die er nicht beantworten konnte. Er griff zur einzigen Waffe, die er gegen seine Unruhe parat hatte - ein in Leder gebundenes Tagebuch. Er schlug es auf, schraubte die Kappe von seinem Füllfederhalter und begann zu schreiben: Am 9. Juli 1915 hat Gouverneur Dr. Theodor Seitz die Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika dem Oberbefehlshaber der südafrikanischen Streitkräfte, General Louis Botha, übergeben. Wie Seitz, so bin auch ich jetzt auf das Wohlwollen der Union von Südafrika angewiesen. Gallant hörte in einem Winkel des Hauses das Telefon klingeln, so weit entfernt und zaghaft, als wüßte der Anrufer, dass er sich in sein Büro zurückgezogen hatte. Das Läuten verstummte.

Kurz darauf klopfte es an der Tür. Er ließ den Füllfederhalter sinken. "Ja, bitte?" Die Tür knarrte, und Edith trat mit einem Tablett ins Büro. Sie stellte es auf der Schreibtischplatte ab. Dabei streifte sie das Tagebuch mit einem kurzen, wissenden Blick. "Dressel hat angerufen", sagte sie. "Die Versammlung findet um sechzehn Uhr statt." - "Gut." - "Soll ich das Essen aufwärmen?" Er schüttelte den Kopf. "Mach dir keine Sorgen, Hans", tröstete ihn Edith. "Premierminister Hertzog ist ein vernünftiger Mann. Er hat immerhin den europäischen Frauen in Südwestafrika das Wahlrecht verliehen." Gallant wartete lächelnd ab, bis ihre Schritte auf dem Flur verklungen waren, dann nahm er seinen Füllfederhalter wieder auf und schrieb nach kurzer Überlegung in das Tagebuch: 1. September 1939. Krieg steht vor der Tür. Ich bete, daß er nicht bei uns anklopft, sonst werden wir ihn hereinlassen müssen, in unsere Häuser, in unsere Herzen, in unser aller Leben. Zwei Stunden später ging Gallant mit der Gewißheit in den stillen Frühlingstag hinaus, dass er bisher nur Geschichte aufgeschrieben hatte, sie jedoch jetzt erleben würde. Es war ein herausforderndes und zugleich angsteinflößendes Gefühl. [...]

Dies ist ein Auszug aus dem Buch: Die verlorenen Jahre, von Giselher W. Hoffmann.

Buchtitel: Die verlorenen Jahre
Autor: Giselher W. Hoffmann
Verlag: Edition Köln
Köln, 2003
ISBN 9783936791013
Kartoneinband, 13x21 cm, 381 Seiten

Hoffmann, Giselher W. im Namibiana-Buchangebot

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