Die europäische Expansion und das Völkerrecht, von Jörg Fisch

Die europäische Expansion und das Völkerrecht, von Jörg Fisch.

Die europäische Expansion und das Völkerrecht, von Jörg Fisch.

Die europäische Expansion und das Völkerrecht: Jörg Fisch schreibt über die Auseinandersetzung um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Bewaffnete Interventionen, blutige und unblutige, gehören fast zum weltpolitischen Alltag. Im Rahmen regionaler oder globaler Bemühungen, Machtstellungen zu sichern oder auszubauen, greifen große und mittlere Mächte in kleineren, schwächeren Staaten ein, um ihren Willen durchzusetzen. Freilich beruft man sich zur Rechtfertigung nicht darauf, sondern auf höhere Gesichtspunkte wie Humanität, Freiheit, Sozialismus etc. Man kann diese Erscheinungen einfach als Ausdrucksformen des vielfältigen machtpolitischen Kräftespiels betrachten. Man kann aber auch fragen, ob und in welchem Ausmaß ihnen bestimmte Rechtsnormen zugrundeliegen. Erfolgen die Interventionen im Rahmen einer umfassenden Rechtsordnung, oder verletzen sie eine solche Ordnung gerade, oder besteht überhaupt kein einschlägiges Recht? Wollte man die Eingriffe verhindern oder zumindest erschweren, so müßte je nachdem eine Rechtsordnung überhaupt erst geschaffen, bestehendes Recht besser eingehalten oder das Recht selber verändert werden. Die wissenschaftliche Behandlung solcher Fragen liegt außerhalb der Kompetenz des Historikers, Wohl aber kann er zusätzliche Gesichtspunkte für eine Antwort bereitstellen, indem er vergleichbare Situationen untersucht. In diesem Buch wird die europäische überseeische Expansion, zusammen mit ihrer Aufhebung in der Entkolonisierung, vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet.

Der Vorgang ist praktisch abgeschlossen, erstreckt sich aber bis in die Gegenwart hinein. Er hat das moderne Völkerrecht entscheidend geprägt, und er ist selber von ihm beeinflußt worden. Das ursprünglich im wesentlichen auf Europa beschränkte Völkerrecht erhielt durch die Expansion einen weltweiten Anwendungsbereich, da es nun sowohl die Beziehungen zwischen den Kolonialmächten als auch zwischen ihnen und den überseeischen Staatswesen zu regeln hatte. Aus dem weltweit angewandten Völkerrecht wurde schließlich durch die Entkolonisierung ein wirkliches Weltvölkerrecht, indem der Verkehr nun nur noch zwischen rechtlich gleichgestellten Staaten erfolgte.

Eines der herausragenden Merkmale der Expansion waren vielfältige Eingriffe der europäischen Mächte in überseeischen Gebieten und Staaten. Solche Interventionen hatten innerhalb des jeweils geltenden Völkerrechts auch ihre Rechtsgrundlagen. Diese aber waren in der Regel kein Recht in einem strengen Sinne, sondern bloße Rechtfertigungen. Sie waren nicht von beiden betroffenen Seiten wirklich akzeptiert, sondern wurden lediglich von einer als geltend behauptet. Sie konnten formell gegenseitig sein, indem sie theoretisch allen Beteiligten zukamen, sich faktisch aber nur zugunsten einer Seite auswirkten, wie das Eroberungsrecht oder die humanitäre Intervention. Sie konnten aber auch einseitig sein, indem sie von vornherein nur den Europäern zustanden, wie das Missions- oder das Zivilisationsrecht.

Durch die Entkolonisierung ist ein großer Teil dieser als Rechte deklarierten Ansprüche und Rechtfertigungen aus dem Völkerrecht ausgeschieden. Die seither erfolgten Interventionen zeigen freilich, daß an mehr oder weniger akzeptablen Rechtfertigungen noch immer kein Mangel herrscht. Das Völkerrecht enthält also in dieser Hinsicht eine weitere Einschränkungsbedürftigkeit, nachdem es vom Anwendungsbereich her seine Ausweitungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat. Dabei ist klar, daß die Ausbürgerung solcher Formen der Rechtfertigung aus dem Völkerrecht allein Interventionen nicht zu verhindern vermag. Aber sie entzieht ihnen zumindest die Legitimität und kann insofern durch ihre Erschwerung zumindest ein erster Schritt zu ihrer Verhinderung sein.

Der Historiker des Völkerrechts steht immer in Gefahr, sich mit einem inexistenten Gegenstand zu beschäftigen. Hinter dem Völkerrecht steht kein mit einem staatlichen Machtapparat vergleichbarer Erzwingungsmechanismus. Das hat in der Völkerrechtswissenschaft zu einer Richtung geführt, die ihm den Rechtscharakter überhaupt abspricht. Der Historiker formuliert den Einwand anders: das Völkerrecht ist angesichts seiner Wirkungslosigkeit nicht viel mehr als eine Chimäre und hat mit der geschichtlichen Realität wenig zu tun. Nun bilden selbst Chimären und Konstruktionen einen Bestandteil der geschichtlichen Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit kommt offenbar ohne solche Konstruktionen nicht aus, wie die nie fehlenden Anstrengungen zur Rechtfertigung von Interventionen zeigen.

Doch das Völkerrecht bzw. die Völkerrechtsordnung ist mehr als eine Chimäre. Ihre Behandlung muß mit einer methodischen Schwierigkeit kämpfen, die für die Darstellung jeder Rechtsordnung gilt: nur die Verletzungen einer Rechtsordnung können eindeutig festgestellt werden, nicht die Fälle ihrer Einhaltung. Eine Statistik der nicht erfolgten Diebstähle ist ebenso unmöglich wie eine Statistik der nicht geführten Kriege oder der nicht erfolgten Interventionen. Die Geschichte der Verletzungen einer Rechtsordnung ist die Geschichte spektakulärer Ereignisse, während die Geschichte der Rechtsordnung selber eine untergründige, stille und unauffällige Geschichte ist. Ihre Wirkungen können ebenso groß und größer sein als die der spektakulären Ereignisse; aber sie bleiben eher im Verborgenen und lassen sich auch nicht präzise messen. Nur ist dies kein Grund, eine solche untergründige Geschichte nicht trotzdem zu behandeln. Das gilt heute ganz besonders von der Geschichte der Völkerrechtsordnung. Denn der Zusammenbruch dieser Ordnung könnte unterdessen viel schwerwiegendere Folgen haben als jemals zuvor. [...]

Dies ist ein Auszug aus dem Buch: Die europäische Expansion und das Völkerrecht, von Jörg Fisch.

Buchtitel: Die europäische Expansion und das Völkerrecht
Untertitel: Die Auseinandersetzung um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Autor: Jörg Fisch
Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, Band 26
Franz Steiner Verlag
Wiesbaden, 1984
ISBN 3-515-04056-0
Broschur, 15x23 cm, 596 Seiten

Fisch, Jörg im Namibiana-Buchangebot

Die europäische Expansion und das Völkerrecht

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Die europäische Expansion und das Völkerrecht: Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

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