Allahs Garten: Erlebnisse im Morgenland, von Artur Heye
Artur Heye berichtet in "Allahs Garten: Erlebnisse im Morgenland" von einer dreijährigen Reise, die er von 1909 bis 1912 unternommen hatte. Zu Fuß wanderte er in drei Wochen von Graubünden nach Venedig, schiffte sich nach Alexandria ein und bereiste mit schmalstem Budget Ägypten, das er intensiv kennenlernte und von dem er, auch heute noch berührend und faszinierend, in diesem Buch berichtete. Es lohnt sich, das Gesamtwerk dieses besonderen Menschen kennenzulernen.
Am Abend nach dem Begräbnis meiner Mutter saß ich in einer Ecke des Kaffeehauses, in dem ich während der vergangenen Monate immer die Entwürfe zu meinen Zeitungsgeschichten niedergeschrieben hatte, und starrte in trübes Sinnen verloren vor mich hin. Ich dachte an ein Wort Buddhas, das ich vor einiger Zeit in einem Buch über seine Lehre gelesen hatte: «Wer hier auf der Welt nichts liebt und nichts haßt und nichts erstrebt, nur der ist ohne Fesseln und kennt keine Furcht.» Sie hatte etwas Gewaltiges, diese Mahnung des indischen Weisen, und doch schien sie ebenso wahr wie unerfüllbar zu sein. Sie konnte nur aus dem Munde eines Heiligen kommen, eines Menschen, der diesem Leben eigentlich schon nicht mehr angehörte, sich bereits weit draußen verloren hatte auf dem unbewegten Meere Nirwanas. Nein, ein Mensch, der diese Mahnung erfüllte, konnte nicht mehr leben, und ein Mensch dieser Art brauchte ja auch nicht mehr zu leben. Aber eine Folgerung konnte man aus diesem Buddha-Wort ziehen, und man würde wohlfahren dabei: nie mehr sein Herz voll an etwas hinzugeben, seien es Menschen oder Dinge, und nie mehr die Einsamkeit des Herzens als einen Nachteil zu betrachten, sondern als Vorzug und Stärke! Ich starrte vor mich hin und träumte. Tausendfältige Bilder zogen durch mein Hirn, immer weiter verlor ich mich in räumliche und zeitliche Fernen, begleitete mich selbst nochmals durch die dunklen Jahre meiner Kindheit und fühlte wieder die verworrene und doch so heiße und wilde Jungensehnsucht und Hoffnungen und den tausendfältigen Ehrgeiz in mir emporsteigen. Ein Klang wehte herüber aus jenem versunkenen Land, ein Lied, das mir hatte Leitmotiv werden sollen, das Lied des Windes. Mühsam suchte und fand ich die halbvergessenen Strophen zusammen, sagte die erste leise vor mich hin: «Ich tanzt' im gelben Wüstensand ...» Da stockte ich ... Wüstensand! Das Gesicht der Wüste, in das ich einst bei einer Fahrt durch den Suez-Kanal den ersten flüchtigen Blick getan hatte, tauchte vor mir auf. Und da stellte sich auch jenes alte Schulwandbild wieder vor mir ein, das mich als Knabe so tief beeindruckt hatte. Wieder standen sie vor mir, die großen Dreiecke, die Palmen und davor das aus Stein gehauene Tier und über allem der strahlende Himmel des Morgenlandes. Ein paar Sekunden lang glühte, funkelte und lockte dieses Bild vor meinem geistigen Auge, dann schloß ich langsam die Faust, ließ sie schwer auf den Marmortisch vor mir fallen - und hatte wieder einmal einen der schnellen Entschlüsse meines Lebens gefaßt. Eine halbe Stunde darauf stand ich über eine Karte des Mittelländischen Meeres gebeugt in einem Reisebüro, verfolgte die roten Linien der Schiffahrtsverbindungen bis zu einem Punkt an der europäischen Küste, las hier den Stadtnamen «Triest», nickte und ging wieder hinaus. Mit dem Tode meiner Mutter war das einzige Glied gelöst, das mich noch mit meiner Heimat verbunden hatte. Jetzt war ich frei zu gehen, wohin es mir beliebte, und nun wollte ich gehen - sofort. Die ganze Welt sollte künftighin meine Heimat sein, und das Land am Nil mein nächstes Ziel. Einige Tage später entstieg ich in Graubünden dem Schnellzug, schwang den Rucksack auf den Rücken und wandte mich der noch tief verschneiten, wilden Bergwelt des Engadins zu ... Einem schon immer befolgten Rezept getreu, wollte ich mir zunächst das schwere Herz durch Wandern erleichtern. Etwa drei Wochen später war ich in Venedig und stand wieder an derselben Stelle, wo ich vor sechs Jahren zum erstenmal die farbenfrohe Schönheit der Markus-Kirche bestaunt hatte - und staunte von neuem. [...]
Dies ist ein Auszug aus dem Reisebericht: Allahs Garten: Erlebnisse im Morgenland, von Artur Heye.
Titel: Allahs Garten
Untertitel: Erlebnisse im Morgenland
Autor: Artur Heye
Genre: Reisebericht, Kriegserinnerungen
Reihe: Wilde Lebensfahrt, Band 2
Verlag: Albert Müller Verlag
Rüschlikon-Zürich, 1961
Lizenzausgabe für die Neue Schweizer Bibliothek
Zürich, 1961
Original-Leineneinband, Original-Schutzumschlag, 21 x 14 cm, 188 Seiten
Heye, Artur im Namibiana-Buchangebot
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