Europäischer Märchenpreis für Dr. Sigrid Schmidt

Europäischer Märchenpreis der Märchen-Stiftung Walter Kahn geht 2006 an Dr. Sigrid Schmidt.

Europäischer Märchenpreis der Märchen-Stiftung Walter Kahn geht 2006 an Dr. Sigrid Schmidt.

Prof. Dr. Helmut Fischer hielt 2006 die Laudatio auf die Preisträgerin des Europäischen Märchenpreises, Frau Dr. Sigrid Schmidt.

Prof. Dr. Helmut Fischer hielt 2006 die Laudatio auf die Preisträgerin des Europäischen Märchenpreises, Frau Dr. Sigrid Schmidt.

Prof. Dr. Helmut Fischer hielt die Laudatio auf die Preisträgerin Frau Dr. Sigrid Schmidt anläßlich der Verleihung des Europäischen Märchenpreises am 25.10.2006 im Schelfenhaus zu Volkach. Die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnung wird jährlich von der Märchen-Stiftung Walter Kahn, Frankfurt am Main, für herausragende wissenschaftliche Leistungen zur Märchenforschung verliehen.

Das, was ich jetzt erzählen will, handelt von einer Menschenfresserin und von Kindern. Es waren einmal in der alten Zeit Leute, deren Kinder gingen in die Schule. Und wie das nun mal so üblich ist, spielten die Kinder gern in der Pause draußen. Als sie eines Tages wieder in der Pause vor der Schule spielten, kam ein starker Wind auf, ein mächtiger Sturm. Da riefen die Lehrer, dass die Kinder ins Haus kommen sollten, zu ihnen hinein. Aber dazu hatten die Kinder keine Lust. Sie spielten einfach draußen weiter. Nun kam wieder ein Windstoß, und der wehte die Kinder zusammen fort. Der Wind wehte sie weit, weit fort, bis zu der Farm der Menschenfresserin. Diese Farm hatte eigentlich weißen Leuten gehört. Aber die Menschenfresserin hatte sie allesamt umgebracht, jetzt lebte sie selbst in dem Haus. Zu dem Haus gehörte auch ein großer Hühnerstall. Und nun sperrte die Menschenfresserin den ganzen Haufen Kinder in den Hühnerstall ein. Die Kinder waren nämlich noch viel zu mager, um sie gleich zu fressen, erst wollte sie sie noch schöner fett machen. Sie schlachtete für die Kinder einen Ochsen nach dem anderen, und jeden Tag bekamen die Kinder mächtige Portionen zu essen, sie kriegten tüchtig Fleisch und wurden bald rund und dick." Immer geht die Frau in den Hühnerstall und befiehlt den Kindern: „Zeigt mir mal eure Finger!" Denn sie will daran fühlen, ob sie endlich fett sind. Aber die Kinder merken, was sie vorhat. Darum sammeln sie alte Hühnerbeine auf, stecken sie durch den Maschendraht hindurch und halten sie der Menschenfresserin hin. Wenn sie die dürren Knochen fühlt, denkt sie, dass die Kinder immer noch mager sind. Und sie grunzt: „Och, was sind sie noch so mager! Ich muss sie doch noch fetter machen!" Dann läuft sie wieder ins Feld, um sich andere Menschen zu fangen, denn solch mageres Fleisch mag sie nicht essen. Wenn die Frau so auf Jagd geht, dann läuft sie meist schon früh am Morgen fort und kommt erst spät am Abend zurück. Die Geschichte von der Menschenfresserin und den Schulkindern nimmt den folgenden Fortgang: Die Frau begibt sich auf die Jagd. Der älteste Junge mit Namen Erich flieht, entdeckt ein sprechendes Grab, das ihn auffordert, mit einem Schlüssel das Haus zu öffnen und ein Geldkästchen zu holen. Er vergräbt das Kästchen, und drei Flaschen quellen aus dem Grab hervor, eine Flasche voll Dornen, die andere voll Dünensand und die dritte voll Wasser. Erich befreit die Kinder. Die Schar läuft davon, verfolgt von der Menschenfresserin. Der Junge zerschlägt die Flasche mit den Dornen, und die Verfolgerin muss einen Dornenberg überwinden. Die Frau ist wieder dicht hinter den Flüchtenden. Da zerbricht der Junge die Flasche mit dem Sand. Als die Menschenfresserin wiederum die Kinder einzuholen droht, lässt die Flasche mit dem Wasser einen breiten und tiefen Fluss entstehen. Die Frau will unbedingt den Schlüssel und die Kinder erreichen. Sie versinkt im Fluss, die Kinder sind befreit und gerettet. Die Kinder werden im Dorf freudig empfangen. Und Erich wird mit dem ältesten Mädchen verheiratet. Es wird ein großes Hochzeitsfest gefeiert. Welche Ähnlichkeiten mit einer bekannten Geschichte sind Ihnen beim Hören aufgefallen? Welche Besonderheiten der Geschichte fordern Fragen heraus und suchen Antworten? Sie haben ganz gewiss an das Märchen, das. die Brüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen unter der Nr. 15 veröffentlichten, gedacht: Arme Eltern setzen ihre Kinder aus. Sohn und Tochter finden den Weg zurück, indem sie Markierungen streuen, schließlich Brotkrümel verteilen, die die Vögel fressen. Die Kinder gelangen an das Haus einer Hexe und Menschenfresserin. Der Junge wird eingesperrt und gemästet. Bei der Feistprobe zeigt er einen Knochen. Die Hexe wird getötet. Es gibt eine Vielzahl von Varianten in Europa, in Asien, Amerika und Afrika. In Hans-Jörg Uthers The Types of International Folktales, einer Klassifikation, die auf Antti Aarnes und Stith Thompsons System fußt, finden Sie unter der Nummer 327 A bis 327 G die entsprechenden Hinweise. Wer erzählt dieses Märchen? Ich habe es einem Buch entnommen mit dem Titel Hänsel und Gretel in Afrika. Es ist der 7. Band der Reihe Afrika erzählt. Die Geschichte ist also schriftlich, gedruckt und durch Vermittlung zu uns gekommen. Die mündliche Version stammt von Susanna Hartenbergh, 49 Jahre alt, und wurde 1981 in Lüderitz aufgezeichnet, und zwar von Frau Dr. Sigrid Schmidt, einer europäischen Forscherin. Es ist ein weiter Weg aus Schwarzafrika südlich der Sahara, aus einem riesigen Kontinent mit seinen mannigfaltigen Kulturen, aus Namibia, aus dem ehemaligen Südwestafrika, einem Land, in dem die Forscherin gelebt und gearbeitet hat und wohin sie mehrere Forschungsreisen unternahm. Ich kann die Faszination nachvollziehen, die das Erzählen in einer fremden Kultur auf die Forscherin ausgeübt hat. Ich kann mir aber auch ihre Überraschung vorstellen, als sie in den märchenhaften Erzählungen der nomadisierenden Nama und Damara europäische Elemente entdeckte. Dies führte dazu, dass Frau Schmidt nicht bloß Texte aufzeichnete, für deutsche Leser etwa aufbereitete und in einem großen Katalog der Erzählforschung erschloss, sondern dass sie auch auf das Problem der Einwirkung außerafrikanischer Erzählungen stieß. Gerade diesen Aspekt untersucht und bespricht sie immer wieder in ihren Büchern am Beispiel thematischer Sammlungen, und zwar der folgenden:

  • 1. Aschenputtel und Eulenspiegel in Afrika. Entlehntes Erzählgut der Nama und Damara in Namibia. 1991.
  • 2. Zaubermärchen in Afrika. Erzählungen der Damara und Nama. 1994.
  • 3. Als die Tiere noch Menschen waren. Urzeit- und Trickstergeschichten der Damara und Nama in Namibia. 1995.
  • 4. Tiergeschichten in Afrika. Erzählungen der Damara und Nama. 1996.
  • 5. Sagen und Schwanke in Afrika. Erzählungen der Damara und Nama. 1997.
  • 6. Scherz und Ernst. Afrikaner berichten aus ihrem Leben. 1998.
  • 7. Hansel und Gretel in Afrika. Märchentexte aus Afrika im internationalen Vergleich. 1999.

Dabei benutzt sie einen extensiven Märchenbegriff, der über das Propp'sche Modell des Zaubermärchens hinausreicht. Kulturkontakt bedeutet die Vermittlung von Kulturgütern zwischen verschiedenen Ethnien und Kulturen. Das Erzählen von Geschichten ist eine der wichtigsten Vermittlungsschienen. Erzählungen wandern mit den Menschen und ihren dinglichen Zeugnissen. Frau Schmidt unterscheidet drei Einflüsse auf das afrikanische Erzählgut:

  • die altafrikanische Überlieferung, Erzählungen, die in Afrika weit verbreitet sind, von der europäischen Überlieferung abweichen und wahrscheinlich vor der europäischen Kolonisierung entstanden;
  • die asiatischen Einflüsse, die schon in vorchristlicher Zeit entstanden und durch den Handel mit Arabern und Indern einwirkten, später durch die Arbeiter auf den Zuckerrohrplantagen;
  • die europäischen Einflüsse seit dem 17. und 18. Jahrhundert.

Die Siedler aus den Niederlanden, aus Deutschland und Frankreich, die zu dem Volk der Buren verschmolzen und das aus dem Niederländischen abgeleitete Afrikaans entwickelten, gaben ihr Erzählgut weiter. Daher lässt sich eine mündliche Überlieferung aus der Vor-Grimm-Zeit von Generation zu Generation konstatieren. Missionare trugen ihr Erzählgut an die indegene Bevölkerung heran. Die weißen Siedler verstärkten den Einfluss. Die Farbigen und Mischlinge sprachen Afrikaans und verbreiteten die Märchen. Die Importmärchen wurden auf die Lebensverhältnisse der adaptierenden afrikanischen Gemeinschaften ausgerichtet. Die europäischen Märchen blieben nur noch ursprünglich europäische Märchen. Sie wurden ganz der Umwelt angeglichen und spiegeln das Leben und Denken der afrikanischen Erzähler. Frau Schmidt hat in mehr als vierzigjähriger intensiver Arbeit das Erzählgut, besonders die Märchen afrikanischer Völkerschaften den europäischen Interessenten und der Wissenschaft erschlossen. Sie fördert das Verständnis durch exakte Analysen und präzise Kommentare, indem sie die aktuellen Instrumente der Erzählforschung anwendet. Sie reflektiert nicht weniger die in den Märchen angelegten allgemeinmenschlichen Grundzüge der Lebensbewältigung, der Sorgen, Ängste und Träume der Menschen. Das Märchen von der Menschenfresserin und den Schulkindern passt sich der aktuellen Wirklichkeit an. Die Kinder besuchen die Schule und leben nicht wie Hansel und Gretel in einer ärmlichen Hütte am Waldrand. Sie folgen nicht dem Ruf der Lehrer und werden bestraft, nicht wie Hansel und Gretel, die von den Eltern ausgesetzt werden. Die Kinder gelangen auf eine Farm, nicht wie Hansel und Gretel ans Knusperhäuschen. Die Mast-Episode ist hier wie dort vorhanden. Die Kinder werden durch magische Hilfsmittel gerettet und nicht wie Hansel und Gretel, indem sie die Hexe in den Backofen stoßen. Literarische und mündliche Überlieferungen verbinden sich. Hansel und Gretel leben in dieser Variante bei den Damara und Nama im afrikanischen Namibia, nicht im urdeutschen Märchenwald. Frau Dr. Sigrid Schmidt hat mit ihren Forschungen, ihren empirischen Zugriffen, mit der Aufbereitung der Texte und ihren wissenschaftlichen Analysen uns nicht eine fremde Welt erschlossen, wohl aber den Blick geöffnet für das, was in einer anderen Kultur aus dem Export von Märchen, auch unserer Märchen, geworden ist. Wir danken ihr für diese einzigartige Leistung und freuen uns darüber, dass ihr der diesjährige Europäische Märchenpreis der Märchen-Stiftung Walter Kahn zuerkannt wurde. Ich gratuliere Frau Dr. Schmidt von Herzen.


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