Der Leiter des Reichskolonialamtes, Friedrich von Lindequist, nimmt 1911 seinen Abschied

Der Leiter des Reichskolonialamtes, Friedrich von Lindequist, nimmt 1911 seinen Abschied. Die Breslauer Zeitung berichtet.

Der Leiter des Reichskolonialamtes, Friedrich von Lindequist, nimmt 1911 seinen Abschied. Die Breslauer Zeitung berichtet.

Der Leiter des Reichskolonialamtes, Friedrich von Lindequist, nimmt 1911 seinen Abschied. Karikatur auf die Rolle Alfred von Kiderlen-Wächters und Theobald von Bethmann Hollwegs in der Marokkokrise.

Der Leiter des Reichskolonialamtes, Friedrich von Lindequist, nimmt 1911 seinen Abschied. Karikatur auf die Rolle Alfred von Kiderlen-Wächters und Theobald von Bethmann Hollwegs in der Marokkokrise.

Das Abschiedsgesuch von Dr. Friedrich von Lindequist, erzeugte ein starkes Presseecho. Der folgende Artikel der Breslauer Zeitung vom 04.11.1911 gewährt interessante Einblicke in die politischen Verhältnisse um die Person des ehemaligen Leiters des Reichskolonialamtes in Berlin und dessen eigener Haltung zu seinem Amt.

Lindequist geht

Die große Marokko-Kongo-„Enthüllung" im Reichstag rückt näher und näher. Willige Federn mußten die öffentliche Meinung schonend darauf vorbereiten, daß die deutsche Volksvertretung in der historischen Stunde des 8. November eigentlich garnichts to seggen hat. Aber man fürchtet doch eine Debatte, und ein Mann ist schon über Bord, Dr. jur. h. c. Friedrich von Lindequist. Schon Anfang September erzählte der Forschungsreisende Herzog Adolph Friedrich von Mecklenburg mit freudigem und gewiß berechtigtem Stolz jedem, der es hören wollte: „Ich habe im Auswärtigen Amte ausführlich über meine Erlebnisse und Feststellungen im französischen Kongogebiet berichtet; Herr v. Kiderlen-Waechter weiß jetzt über den Wert der Ländreien, die als Kompensation in Betracht kommen, genau Bescheid." Der Herzog? Der Privatmann? So fragte man sich verwundert. Wo bleibt das Reichskolonialamt als Informationsquelle? Allgemeines Kopfschütteln. Aber weiter: Anfang Oktober, also vor reichlich drei Wochen flog ein Lindequist-feindliches Geschoß, natürlich nichtöffiziöfen Kalibers, in die deutsche Presse. Es hatte ungefähr folgenden Inhalt: Herr v. Lindequist meint es ja ganz gut in seinem schönen Amt (er hatte gerade der von ihm ins Leben gerufenen  ständigen wirtschaftlichen Kommission der Kolonialverwaltung ein ausführliches Programm „zur Hebung der tropischen und subtropischen Plantagen-, Farm- und Eingeborenenwirtschaft für die aftikanischen Kolonien' unterbreitet), aber es ist sehr fraglich, ob er noch lange darin tätig sein wird; Herr v. Kiderlen und der Herr Reichskanzler haben in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Kolonialstaatssekretär bemerken müssen, daß dieser mit den tatsächlichen Verhältnissen im Kompensationsgebiete des Kongos wenig vertraut ist; ein Kolonialminister, der da, wo er erste Autorität sein sollte, im entscheidenden Augenblick nichts zu sagen weiß, ist denn doch auf die Dauer eine Unmöglichkeit usw.    Bald darauf verkündete ees Maximilian Harden, der alles fleißig sammelt, am vergangenen Freitag zweitausend Berlinern in seinem Vortrag über die politische Lage: Herr v. Lindequist habe sich Im Schoß der Regierung gegen die Kongokompensation ausgesprochen. Am nächsten Tag wurde daraus die Zeitungsnotiz: Wie verlautet, bestehen zwischen dem Kolonialstaatssekretär v. Lindequist und den Herren v. Bethmann Hollweg und v. Kiderlen-Waechter andauernd ernste Differenzen, die vermutlich zu einem Rücktritt des Herrn v. Lindequist führen dürften; verursacht sind diese Verstimmungen durch derr Abschluß des Kongoabkommens. Vier Stunden später lag prompt das amtliche Dementi vor, an das kein Mensch glaubte. Denn, welcher deutsche Staatsdiener stürzte nicht, ohne daß vorher sein Straucheln und Wanken aus das lebhafteste bestritten wurde? Herr v. Lindequist ist nun gefallen. Seine ganze bisherige Kolonialkarriere war ein Golgatha, ein Leidensweg, soweit sie sich in der Berliner Wilhelmstraße abspielte. Kaum war er als Gouverneur von Südwestafrika ein wenig warm und heimisch geworden, da wurde er als rechte Hand Dernburgs an den grünen Tisch vor die Akten und Tintenfässer des Kolonialamts gerufen. Schon damals, 1907, äußerten diejenigen, die ihn kannten, das Bedenken, ob er nicht draußen in der Praxis weit wertvollere Dienste zu leisten imstände wäre, als im Berliner Bureau, zumal er sich im Reichstag nicht als glänzender Debatter erwies. Und dies gehört, wie die Rededuelle Dernburg-Erzberger zeigten, eben auch zum „Kolonialgeschäft." Diese Befürchtungen bestätigten sich, als von Lindequist am 3. Juni 1910 die Erbschaft Dernburgs im Reichskolonialamt antrat. Man sah sofort, er war dem offenen und heimlichen Ringen mit der Erzberger-Politik nicht gewachsen. Man warnte ihn zwar durch die Einschiebung des zentrums-freundlichen Unterstaatssekretärs Böhmer, aber er merkte es nicht. Er fühlte sich nur sehr, sehr, unwohl und wurde wiederholt offiziell krank. Der erste Geheimrat Dr. Golinelli schied aus dem Dienste, und selbst Böhmer hielt es auf die Dauer nicht ohne längere „Erkrankung" aus. Eine wahre Urlaubsepidemie (morbus Erzbergeri) stellte sich Im Kolonialamt ein, und alles, was überhaupt noch an aktiver Politik getrieben wurde, geschah in der Angst vor Erzberger, dem seine Partei immer mehr das koloniale Gebiet als Tummelplatz zur „Ablenkung" zuweist. In der Pomona-Angelegenheit wurden, um den Grimm Erzbergers zu besänftigen, unwirtschaftliche Fiskalforderungen aufgestellt, die geeignet waren, die Einigung der Unternehmerkreise In Südwestafrika zu stören. Die Verödung des Marktes für Kolonialwerte brachte dem Publikum empfindliche Verluste und Verstimmungen. An die Stelle kolonialer Förderungen trat ein kolonialer Terrorismus. Schritt vor Schritt wich Lindequist vor Erzberger zurück. Jetzt hat Herr v. Lindequist einen wunderschönen Vorwand gefunden, von seinem Amte, in dem er nie warm geworden ist, und zu dem er in keiner Weise paßte, mit nicht geringem Aplomp zurückzutreten. Ob dieser Rücktrittsvorwand in dieser Situation ebenso patriotisch wie aufsehenerregend ist, bleibt eine andere Frage, die erst zu beantworten sein wird, wenn der Marokkovertrag vorliegt.