Die französische Kongoaffäre 1905/1906

Ein Mittel in der imperialistischen Konkurrenz der Kolonialmächte
Markstrahler, Jürgen
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Untertitel: Ein Mittel in der imperialistischen Konkurrenz der Kolonialmächte
Autor: Jürgen Markstrahler
Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte, Band 33
Franz Steiner Verlag
Stuttgart, 1986
Broschur, 15x23 cm, 486 Seiten


Vorstellung des Verlages:

Obwohl die französische Kongo-Affäre 1905/ 1906 seit langem in jeder Darstellung der französischen Kolonialherrschaft erwähnt wird, fehlte bisher eine groß angelegte Untersuchung. In der hier vorgelegten Arbeit wird auf der Grundlage eingehender Archivstudien und im Zuge einer kriminalistischen Beweisführung die These vertreten, daß die Affäre, entgegen den bisherigen Interpretationen, nicht die Funktion hatte, eine Reform der im Kongo herrschenden Kolonialpraxis zu bewirken.

Von der französischen Regierung eigens inszeniert, war ihr im Gegenteil die Aufgabe zugedacht, das in Französisch-Kongo betriebene System monopolistischer Raubwirtschaft gegenüber den konkurrierenden Kolonialmächten zu legitimieren und somit politisch abzusichern.


Aus dem 2. Kapitel:

Bisherige Erklärungsversuche zur französischen Kongo-Affäre von 1905/1906
Ältere Deutungsversuche

Nach den bisherigen Darlegungen kann es nicht verwundern, wenn auch die hier zu untersuchende französische Kolonialaffäre in der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur, die sich allerdings mit der im dritten Abschnitt dieses Kapitels zu präsentierenden Ausnahme einer etwas eingehenderen Erörterung nur sehr kursorisch mit dem Fall beschäftigt, bis in die jüngste Zeit hinein nach Art der oben aufgezeigten Erklärungsmuster interpretiert wird. Dabei können zwei Hauptvarianten unterschieden werden, auf die jetzt anschließend jeweils im einzelnen eingegangen werden soll.

Als Grundlage für die nachfolgende Auseinandersetzung ist zunächst einmal der Skandalverlauf, so wie er sich aus der zur ersten Hauptvariante vorliegenden Literatur rekonstruieren läßt, in seinen Grundzügen zu umreißen. Eigens belegt werden im Zuge dieser vorläufigen Skandalschilderung nur solche Einzelangaben, die im weiteren Gang der Untersuchung nicht noch einmal ausdrücklich erwähnt werden. Nachdem die in der Literatur beobachtbaren älteren Deutungsversuche der hier behandelten Kongo-Affäre einer kritischen Überprüfung unterzogen worden sind, soll dann im nachfolgenden Abschnitt des vorliegenden Kapitels die zweite Hauptvariante der bisher vorliegenden Interpretationsansätze vorgestellt werden.

Der französische Kongoskandal wurde im Februar des Jahres 1905 ausgelöst und weitete sich in der Folge zu einer politischen Affäre aus, die über den ursprünglichen Anlaß weit hinausging. Er begann mit einer mehrtägigen Artikelserie der Zeitung "Le Matin" und anderer Pariser Tagesblätter. Am 16. Februar 1905 publizierte "Le Matin" einen Bericht, dem in der Literatur eine erhebliche Wirkung zugeschrieben wird: "(l’article) eclatait comme une bombe". In diesem und weiteren Artikeln sei berichtet worden, betrunkene Kolonialfunktionäre hätten aus Anlaß des französischen Nationalfeiertages am 14. Juli 1903 - also bereits eineinhalb Jahre vor Erscheinen entsprechender Pressemeldungen - einen jungen Afrikaner durch eine Dynamitpatrone exekutiert. Der Getötete sei beschuldigt worden, eine Einheit der kolonialen Miliz in einen vorbereiteten Hinterhalt geführt zu haben.

Ein anderer Afrikaner sei enthauptet worden, um aus seinem Schädel eine Bouillon zu kochen, die seinen Verwandten und Freunden anschließend zum Verzehr angeboten worden sei. Die sensationell wirkenden Meldungen seien in fast allen Zeitungen nachgedruckt worden; beigefügte Karikaturen hätten den makabren Gesamteindruck der Presseberichte unterstrichen. Diese Berichte sollen in der französischen Öffentlichkeit für erhebliche Unruhe gesorgt haben - so spricht Julien (1979, S. 192) zum Beispiel von einer "opinion française traumatisée"-, war doch vom Grundschulalter an in den Massen die Überzeugung weit verbreitet "que les coloniaux portaient avec eux la civilisation française".

Eine im Auftrag des Kolonialministers zusammengestellte Untersuchungsdelegation reiste Anfang April in die Kolonie ab und kehrte im September desselben Jahres nach Frankreich zurück. Bei ihren Nachforschungen wurde die Delegation von der Kolonialbürokratie massiv behindert. Bereits vor ihrer Abreise in die Kolonie verweigerte das Kolonialministerium jede Kooperation. In der Kolonie selbst stießen die Bemühungen der Delegationsmitglieder auf den fast einhelligen Widerstand der lokalen Verwaltung und der übrigen Kolonisten. Nach Beendigung ihrer Tätigkeit war die Delegation zudem den vehementen Angriffen der Tageszeitungen "La Dépêche Coloniale" und "La Lanterne" ausgesetzt, welche die Interessen der im Kongo etablierten großen Landgesellschaften verteidigten. Auch in der übrigen Presse weitete sich die Berichterstattung nach Rückkehr der Delegation zu einer heftig und kontrovers geführten Kampagne aus, in der das gesamte politische Spektrum vertreten war.

In der Kolonialpresse und den rechts orientierten Tageszeitungen wurde die Arbeit der Untersuchungsdelegation grundsätzlich in Frage gestellt mit dem Ziel, die ermittelten Ergebnisse von vornherein zu diskreditieren. Eine Zeitung wie "Le Temps" ließ zwar ein Mitglied der Untersuchungsdelegation zu Wort kommen, richtete aber zugleich scharfe Angriffe gegen einen sozialistischen Abgeordneten, der die Politik des Kolonialministeriums kritisierte, sowie auch gegen die sozialistische Tageszeitung "L'Humanité" und warf beiden vor, ihnen gehe es bei ihrer Kritik lediglich darum, wieder einmal ihre grundsätzliche Abneigung gegen die Kolonisation zum Ausdruck zu bringen (Jaugeon 1961, S. 413).

Von den damals zahlreichen Pariser Tageszeitungen nahm während der hier erwähnten Pressekampagne lediglich die eben genannte sozialistische "Humanité" Partei für die Untersuchungsdelegation. Unter der Überschrift "La barbarie coloniale" informierte sie ihre Leser in einer mehrwöchigen Artikelserie von September bis Oktober 1905 über die von der Untersuchungsdelegation zusammengetragenen Ergebnisse. Gegen die von den Konzessionsgesellschaften mit Duldung der Kolonialbürokratie inszenierte Pressekampagne waren dies indes nur bescheidene Ansätze einer Gegenöffentlichkeit.

Unterdessen hatte der Kolonialminister eine Kommission ernannt, die sich aus hohen Repräsentanten des Ministeriums und der Kolonialadministration zusammensetzte und von einem ehemaligen Minister geleitet wurde. Diese Kommission tagte vom Oktober bis zum Dezember 1905 und hatte den Auftrag, die von der Untersuchungsdelegation aus dem Kongo mitgebrachten Dokumente zu überprüfen und zu einem abschließenden Bericht zu verarbeiten. Weder dieser Bericht, der lediglich von vier Parlamentsabgeordneten zur Kenntnis genommen wurde (ebd., S. 415), noch die Originaldokumente der Untersuchungsdelegation wurden je der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Nach einer dreitägigen Parlamentsdebatte im Februar 1906 lehnte es die Mehrheit der Abgeordnetenkammer ab, einer von den Sozialisten erhobenen Forderung zuzustimmen, die Originaldokumente zu publizieren, um den gesamten Sachverhalt auf dieser Grundlage einer erneuten parlamentarischen Behandlung zuzuführen. Auf Intervention des Außenministeriums unterblieb schließlich auch die vom Kolonialminister im Parlament in Aussicht gestellte Veröffentlichung des von der erwähnten ministeriellen Kommission redigierten offiziellen Abschlußberichtes.

Damit hatte der Skandal seinen äußeren Abschluß gefunden, ohne daß die in der Presse und im Parlament geführte Auseinandersetzung grundlegende Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Abgesehen von zwei unmittelbar betroffenen, rangniederen Beamten blieben auch personelle Konsequenzen aus. Einige vom Kolonialminister bereits im Vorfeld der Parlamentsdebatte, mithin ohne Beteiligung der Abgeordnetenkammer erlassene Reformdekrete hatten keine tiefgreifende Wirkung, weil sie die im Kongo etablierten Kolonialstrukturen unangetastet ließen.

Ausgehend von einer kritischen Betrachtung der in den vorliegenden älteren Deutungsversuchen vorfindbaren Erklärungsmuster soll nun in den folgenden Überlegungen versucht werden, einige für das bisher nur ganz grob skizzierte Thema zentrale Frage- und Problemstellungen näher zu umreißen. [...]