Autor: Nelson Mandela Übersetzung: Matthias Wolf Deutscher Taschenbuch Verlag München, 2008 ISBN 978-3-423-20924-3 Broschur, 17x24 cm, 192 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen Wissen Sie, warum es einst der Giraffe für immer die Sprache verschlug? Der Elefant einen Rüssel trägt? Und wie es kam, dass die Katze zum Haustier wurde? Hinein in die Weite afrikanischer Steppen entführt der große alte Mann Südafrikas Nelson Mandela mit seinem Band ›Meine afrikanischen Lieblingsmärchen‹. Mit farbenfroher und poetischer Sprache erzählen die aus verschiedenen Ländern zusammengetragenen Geschichten von der Schöpfung und der Kraft der Natur, vom Sieg der List selbst über den machtvollsten Gegner und von einer Zeit der Harmonie zwischen Mensch und Tier. Zusammen mit den phantasievollen Illustrationen südafrikanischer Künstler lädt dieser äußerst liebevoll aufgemachte Märchenschatz ein zu einer faszinierenden Reise durch den schwarzen Kontinent, durch ein Afrika voller Weisheit, Witz und Lebensmut, von dem auch wir noch einiges lernen können. Rolihlahla Nelson Mandela, geboren 1918 in Südafrika, ist weltbekannt für seinen Kampf gegen die Apartheid, für den er 27 Jahre im Gefängnis verbringen mußte. 1993 erhielt er den Friedensnobelpreis, ein Jahr später wurde er zum Präsidenten von Südafrika ernannt. Mandela wuchs in dem Dorf Qunu auf, wo er schon früh durch die Erzählungen der Älteren mit der afrikanischen Geschichte und Folklore vertraut gemacht wurde. Vorwort von Nelson Mandela Der betörende Gesang des Zaubervogels (Tansania) Die Katze, die ins Haus kam (Simbabwe) Der große Durst (San, Südafrika) Bescherung bei König Löwe (Khoi, Südafrika) Die Botschaft (Namibia) Der Schlangenhäuptling (Westafrika/Zululand) Wie Hlakanyana das Ungeheuer überlistete (Nguni, Südafrika) Worte so süß wie Honig von Sankhambi (Venda, Südafrika) Mmutla und Phiri (Botswana) Löwe, Hase und Hyäne (Kenia) Mmadipetsane (Lesotho) Kamiyo vom Fluss (Xhosa, Südafrika) Spinne und die Krähen (Nigeria) Natiki (Namaqualand, Südafrika) Der Hase und der Baumgeist (Xhosa, Südafrika) Der Mantis und der Mond (San, Südafrika) Die Schlange mit den sieben Köpfen (Xhosa, Südafrika) Die Rache des Hasen (Sambia) Die Wolfskönigin (Kapmalaiisch) Van Hunks und der Teufel (Kapholländisch) Wolf und Schakal und das Butterfass (Kapholländisch) Die Wolkenprinzessin (Swasiland) Der Hüter des Teichs (Zentralafrika/Zululand) Die Tochter des Sultans (Kapmalaiisch) Der Ring des Königs (Mythische afrikanische Königreiche) Der schlaue Schlangenbeschwörer (Marokko) Asmodeus und der Geisterabfüller (Kap-Provinz/Südafrika) Sakunaka, der hübsche junge Mann (Simbabwe) Die Mutter, die zu Staub zerfiel (Malawi) Mpipidi und der Motlopi-Baum (Botswana) Anhang Autoren Illustratoren Quellennachweise Die Herkunft der Märchen „Wir meinen nicht wirklich, wir meinen nicht wirklich, dass das, was wir jetzt erzählen werden, auch wahr ist.“ Mit diesen Worten pflegen die Geschichtenerzähler der Aschanti ihre Erzählungen zu beginnen, und vielleicht eigenen sie sich auch als Einleitung zur vorliegenden Anthologie, denn die meisten dieser Geschichten haben im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Wandlungen erfahren. Sie wurden ausgeschmückt und erweitert, und bisweilen sind sie von einem Volk oder einer ethnischen Gruppe auf eine andere übergegangen. Eine Geschichte ist eine Geschichte, und deshalb kann man sie so erzählen, wie es der eigenen Phantasie, dem eigenen Wesen oder der jeweiligen Umwelt entspricht; und wenn die Geschichte Flügel bekommt und zum Eigentum anderer wird, dann sollte man sie auch nicht aufhalten. Eines Tages kehrt sie zu einem selbst zurück, bereichert durch neue Details und mit einer neuen Stimme. Dieses besondere Merkmal der Volksmärchen kommt in den traditionellen Schlussworten des Ashanti-Erzählers zum Ausdruck: „Dies ist meine Geschichte, die ich erzählt habe, ob sie nun schön war oder nicht - mögen Teile fortgetragen werden und Teile davon zu mir zurückkehren.“ Die Sammlung enthält ein paar der beliebtesten Geschichten, Kostbarkeiten, die die unverfälschte Aura Afrikas verströmen, in vielen Fällen aber auch von universaler Bedeutung sind, nämlich dort, wo sie von Menschen, Tieren und dem Mystischen sprechen. Der Leser wird hier eine Vielfalt beliebter Motive aus afrikanischen Erzählungen wiederentdecken oder ihnen vielleicht auch zum allerersten Mal begegnen. Da ist etwa die pfiffige Kreatur, der es gelingt, jeden zu überlisten, selbst sehr viel größere und stärkere Gegner: Hlakanyana bei den Zulu und Xhosa oder Sankhambi bei den Venda; der Hase, ein verschlagener kleiner Gauner; der listige Schakal, der meist in der Gestalt des Tricksters daherkommt; die Hyäne (die manchmal mit dem Wolf gleichgesetzt wird) in der Rolle des ewigen Verlierers; der Löwe als Herrscher, der die Tiere mit Geschenken bedenkt; die Schlange, die Furcht einflößt, zugleich aber auch ein Symbol der Heilkraft ist, oft in Verbindung mit der Kraft des Wassers; magischer Zauber, der Unheil oder Freiheit bringen kann; Menschen und Tiere, die andere Gestalt annehmen; schauerliche Kannibalen, die Erwachsene und Kinder gleichermaßen erschrecken. Die Sammlung enthält aber auch einige neue Geschichten aus verschiedenen Teilen Südafrikas und des übrigen Kontinents, die diese alten Schätze ergänzen. Möge die Stimme des Geschichtenerzählers in Afrika nie verstummen; mögen alle Kinder Afrikas das Wunder der Bücher erleben und nie ihre Fähigkeit verlieren, ihr Leben auf dieser Erde durch die Magie der Märchen zu bereichern. Diese ostafrikanische Geschichte über die Unschuld und die Kraft von Kindern wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Benaland, Tanganjika (heute zu Tansania gehörend) von Pastor Julius Oelke von der Berliner Kirchenmission aufgezeichnet. Die Illustration stammt von Piet Grobler. Eines Tages kam ein seltsamer Vogel in ein kleines, zwischen Hügeln eingebettetes Dorf. Von diesem Augenblick an war nichts mehr sicher. Alles, was die Dorfbewohner auf den Feldern anpflanzten, verschwand über Nacht. Jeden Morgen gab es weniger Schafe, Ziegen und Hühner. Selbst tagsüber, während die Leute auf dem Land arbeiteten, kam der Riesenvogel, brach ihre Lagerhäuser und Kornspeicher auf und stahl ihnen ihre Wintervorräte. Die Dorfbewohner waren am Boden zerstört. Überall herrschte Not - allenthalben waren Klagelaute und Zähneknirschen zu hören. Niemand - nicht einmal der tapferste Held des Dorfs - konnte des Vogels habhaft werden. Er war einfach zu schnell für die Menschen. Kaum, dass sie ihn einmal sahen: Sie hörten nur das Rauschen seiner mächtigen Schwingen, wenn er sich in der Krone der uralten Steineibe unter dichtem Laubwerk niederließ. Der Dorfvorsteher riss sich die Haare aus vor Verzweiflung. Eines Tages, nachdem der Vogel auch ihm das Vieh und die Wintervorräte geplündert hatte, befahl er den älteren Männern, ihre Beile und Buschmesser zu schärfen und geschlossen gegen den Vogel vorzugehen. „Fällt den Baum - das ist das einzige, was hilft“, sagte er. Mit blank gewetzten Beilen und Buschmessern bewaffnet, näherten sich die älteren Männer dem Baum. Die ersten Schläge waren wuchtig und trafen den Stamm tief ins Mark. Der Baum erzitterte, und aus dem dichten Laub seiner Krone tauchte der seltsame, geheimnisvolle Vogel auf. Ein honigsüßes Lied entströmte seiner Kehle. Es drang den Männern ins Herz und erzählte von fabelhaften, fernen Dingen, die nie wiederkehren würden. So betörend war der Klang, dass die Männer, einer nach dem anderen, ihre Beile und Buschmesser fallen ließen. Sie sanken auf die Knie und starrten mit sehnsüchtigen, wehmutsvollen Blicken hinauf zu dem Vogel, der da in seiner ganzen farbenfrohen Pracht für sie sang. Den Männern wurden die Hände schwach. Ihre Herzen wurden weich. Nein, dachten sie, ein so schöner Vogel könnte nie soviel Schaden und Zerstörung anrichten! Und als die Sonne rot im Westen unterging, wankten sie wie Nachtwandler zurück zum Dorfvorsteher und sagten ihm, nichts, aber auch gar nichts könne sie dazu bewegen, dem Vogel irgendein Leid anzutun. Der Vorsteher wurde sehr ärgerlich. „Dann müssen mir eben die jungen Männer des Stammes helfen“, sagte er. „Die jungen Burschen sollen die Macht des Vogels brechen.“ Am nächsten Morgen nahmen die jungen Männer ihre glänzenden Beile und Buschmesser und machten sich auf den Weg zum Baum. Die ersten Schläge waren wieder wuchtig und trafen den Stamm tief ins Mark. Und genau wie zuvor öffnete sich das grüne Laubdach des Baumes, und der seltsame Vogel erschien in all seiner vielfarbigen Pracht. Wieder schallte eine höchst wundersame Weise durch die Hügel. Betört lauschten die jungen Männer dem Lied, das ihnen von Liebe und Tapferkeit und den heldenhaften Taten sprach, die ihrer harrten. Dieser Vogel kann nicht schlecht sein, dachten sie. Dieser Vogel kann nicht bösartig sein. Den jungen Männern wurden die Arme schwach, die Beile und Buschmesser entglitten ihren Händen, und sie knieten nieder wie vor ihnen die älteren Männer, um dem Gesang des Vogels wie in Verzückung zu lauschen. Als die Nacht hereinbrach, taumelten sie verwirrt zum Vorsteher zurück. In den Ohren klang ihnen noch immer der betörende Gesang des geheimnisvollen Vogels. „Es ist unmöglich“, sagte der Anführer der Gruppe. „Niemand vermag der Zauberkraft dieses Vogels zu widerstehen.“ Der Vorsteher war wütend. „Jetzt bleiben nur noch die Kinder“, sagte er. „Kinder hören genau, und ihr Blick ist klar. Ich werde mit den Kindern gegen den Vogel losziehen.“ Am nächsten Morgen gingen die Kinder des Stammes unter der Führung des Dorfvorstehers zu dem Baum, auf dem der seltsame Vogel saß. Sobald sie auf den Stamm einhackten, öffnete sich das Laubdach und der Vogel erschien wie schon zuvor - in all seiner berückenden Schönheit. Doch die Kinder schauten nicht nach oben. Ihre Blicke blieben auf die Beile und die Buschmesser in ihren Händen gerichtet. Und sie hackten, hackten, hackten zum Rhythmus ihrer eigenen Musik. Der Vogel begann zu singen. [...] |