Autoren: Albert Wirz, Michael Pesek, Katrin Bromber et al. Herausgeber: Albert Wirz, Andreas Eckert, Katrin Bromber Rüdiger Köppe Verlag Köln, 2003 Broschur, 16x24 cm, 261 Seiten, 15 sw-Fotos und Abbildungen
Die Mehrheit der im vorliegenden Sammelband enthaltenen Beiträge entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktprogramms “Transformationen der europäischen Expansion vom 15.–20. Jahrhundert. Untersuchungen zur kognitiven Interaktion von europäischen mit außereuropäischen Gesellschaften”. Die Autoren gehen von der Überlegung aus, dass die vieldiskutierte Krise der staatlichen Gewalt in Afrika durch die Auswirkungen der Globalisierung den zu beobachtenden Phänomenen nicht gerecht wird. Sie sehen nicht das Ende von territorialen Flächenstaaten, sondern einen Aufbruch der Gesellschaften aus den Überbleibseln der überkommenen kolonialen und darauf aufbauenden post-kolonialen Machtstrukturen. Um den gegenwärtigen Zustand zu beleuchten, zeichnen die Autoren beispielhaft einige spezifische Momente in der kolonialen Periode Tansanias nach, an denen sich die zentrale Stellung der sozialen Disziplinierungsanstrengungen kolonialer Verwaltung und die Reaktionen und Ausweichstrategien der kolonialen Untertanen ablesen und verfolgen lässt. Dabei erweist sich, dass die Eingliederung afrikanischer Gesellschaften in den kolonialen Machtaufbau nie ein unilateraler Prozess war, sondern ein komplexes Spiel verschiedenster Kräfte. Daher wird auch verständlich, dass das erstrebte Ziel aller kolonialen Maßnahmen und Disziplinierung, die Etablierung eines rational-bürokratischen Verwaltungsstaates wie in Europa, selbst am Ende der Kolonialzeit immer noch in weiter Ferne lag. Der Grund für die Brüchigkeit der bürokratischen kolonialen Utopie und ihr Verweis auf ein immerwährendes Morgen war ihr Widerspruch zu dem Alltagshandeln der Vertreter der Kolonialadministration, das häufig durch Gewalt und Willkür geprägt war. Eine zentrale Rolle spielten bei den Disziplinierungsprozessen die Körper-, Zeit- und Raumvorstellungen der Beteiligten, auf die in Schulunterricht und im militärischen Bereich besonderes Augenmerk gelegt wurde. Hier fand auch Heranbildung der Schicht von loyalen einheimischen Hilfskräften statt, ohne die die Durchsetzung und Anwendung von kolonialer Macht nicht möglich gewesen wäre. Allerdings ist zu fragen, inwieweit diese ihr erworbenes Wissen und die neuen Verhaltensnormen wirklich rezipierten und in ihren Funktionen als “Cultural Brokers” weitergaben, oder ob sich nicht andere Elemente des alltäglichen Lebens, etwa einheimische Tradition oder gerade europäische Willkür und Disziplinlosigkeit, stärker auswirkten. Gerade aus dieser Verwaltungselite rekrutierten sich die Träger des antikolonialen Nationalismus und des jungen Nationalstaates, die in ihrer eigenen Machtausübung die beschriebenen negativen Verhaltensmuster allzu häufig fortführten.
Einleitung Albert Wirz: Körper, Raum und Zeit der Herrschaft Zeitenwechsel Katrin Bromber: Disziplinierung – eine europäische Erfindung? Das islamische Bildungswesen an der ostafrikanischen Küste des späten 19. Jahrhunderts Katrin Bromber, Jürgen Becher: Abdallah bin Hemedi. Ein Vertreter der administrativen Elite im Transformationsprozess zwischen Busaidi-Herrschaft und deutscher Kolonialadministration Neue Kleider Katrin Bromber: Ein Lied auf die hohen Herren. Die deutsche Kolonialherrschaft in der historiographischen Swahiliverskunst der Jahrhundertwende Michael Pesek: Islam und Politik in Deutsch-Ostafrika Jürgen Becher: Die deutsche evangelische Mission als Erziehungs- und Disziplinierungsinstanz in Deutsch-Ostafrika Jürgen Becher: Martin Ganyisha. Eine afrikanische Missionskarriere Eigene Wege Andreas Eckert: „Diziplin und Tränen“. Erziehung, Verwaltung und koloniale Ordnung in British-Tanganyika Katrin Bromber, Andreas Eckert: A People’s Princess? Der Besuch von Prinzessin Margaret in Tanganyika, Oktober 1956 Andreas Eckert: Patrick Kunambi – Politiker und Chief in der Dekolonisationsperiode
Wer im Hafen von Sansibar Town das Schnellboot, das ihn vom Festland herübergebracht hat, verlässt, bleibt nicht lange allein. Sogleich wird er von dienstbaren Geistern bestürmt. So war es auch, als vier der fünf Autoren dieses Buchs im Frühjahr 1998 erwartungsfroh die Gangway zum Kai betraten. Kaum wehte uns die feuchtheiße Luft der Gewürzinsel um die Nase, stürmte ein smarter Mann auf uns zu, Turnschuhe an den Füssen, frisch geplättetes Hemd, Goldkette um den Hals, ein Mann von Welt. Zum Zoll gehe es da lang. „Nur langsam, ich helfe Ihnen gern." Und während er die Fremden durch das bürokratische Labyrinth von polizeilicher Anmeldung, Immigration und Gepäckkontrolle steuerte, wies er darauf hin, dass er „da hinten" ein Auto stehen habe. Wenn wir keine Unterkunft hätten, wisse er schon wohin, auch Ausflüge organisiere er gern. Es folgte ein Wust von Details, Namen, Preise, Zeiten, Destinationen. Er tänzelte und redete und half, die Unübersichtlichkeit zu ordnen. Mit seiner behenden Geschäftigkeit schuf er jedoch selbst immer wieder neues Chaos, was damit zusammenhing, dass er, wie sich bald einmal herausstellte, kein Fahrzeug, keinen Überblick über die Gästezimmer, kein Geld und auch keine Lizenz hatte, die ihm irgendwelche Rechte gegeben hätte, sondern nur seinen Charme und seine Überzeugungskunst: Er war ein Kleinstunternehmer, ein Broker, der zwischen verschiedenen Wunschwelten vermittelte, ein Geschäft voller Unwägbarkeiten, kapriziös wie das Wetter. Aber er wusste, wie man drohenden Unmut glättet. Kam Ungeduld auf, sagte er mit beruhigender Stimme, und er lächelte dabei: „Everything's under control." In Wahrheit hatte er nichts unter Kontrolle, aber die Fremden glaubten ihm trotzdem, weil sie wollten, dass es so wäre. Viel später erst haben wir verstanden, dass uns der Cicerone mit dem im Laufe der Tage wie ein Ceterum censeo wiederholten Satz eine wichtige Lehre erteilte: Er benannte ein Grundproblem jeder Herrschaft. Ihm verdanken wir den Titel für die nachfolgenden Studien, die sich mit Disziplinierungsprozessen im Zusammenhang mit kolonialer Herrschaft und Staatsbildung befassen sowie mit der Frage, wie Macht im kolonialen Staat inszeniert und repräsentiert wurde. Koloniale Ordnung und Staatszerfall Zu den drängenden Problemen des zeitgenössischen Afrika südlich der Sahara gehört die Frage der staatlichen Ordnung. Die Frage bewegt die Menschen in den betreffenden Ländern: Sie verlangen Wohlfahrt oder auch nur sauberes Wasser, Schulen und Rechtssicherheit, ein Leben in Würde, zuweilen auch Demokratie. Die Frage dominiert zudem die Diskussionen in den Staatskanzleien der Industrieländer und in den internationalen Entwicklungsagenturen: Hier wird die Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte erhoben, hier wird nach Wahlen gerufen und good governance zur Voraussetzung für technische Hilfe und Kredite an die armen Länder des Südens sowie für Zollerleichterungen gemacht. Die Wissenschaft ihrerseits hat sich der Frage seit langem angenommen. Während jedoch Soziologen und Politologen die Thematik Vorjahren noch primär unter dem Blickwinkel der Nationenbildung betrachteten, sprechen sie in jüngster Zeit eher von Staatszerfall oder doch von der Rückbildung staatlicher Macht im Gefolge der Globalisierung. Einige beschwören bereits das Ende des Nationalstaates und sprechen vom Scheitern des Modells außerhalb von Europa und Nordamerika. Hat sich die im Zuge von Kolonialismus und Imperialismus oft zitierte „Europäisierung der Welt" als Chimäre erwiesen (Reinhard 1999a und Reinhard 1999b)? Das vorliegende Buch will einen Beitrag zu dieser Diskussion um die staatliche Ordnung im zeitgenössischen Afrika leisten, indem es in die kolonialen Anfänge Tansanias zurückblickt und einige spezifische Momente in der Herausbildung jener Verwaltungselite nachzeichnet, die zum Träger des antikolonialen Nationalismus und des jungen Nationalstaates geworden ist. Doch wir gehen einen anderen Weg als die neuerlich staatsmüden Wissenschaftler. Wir teilen zwar den Befund von Basil Davidson (1992) und anderen, dass sich der kolonial begründete Nationalstaat in Afrika mehr als Last und Bürde, denn als Gewinn erwiesen hat, weil er ohne Wurzeln in der lokalen Moralökonomie ist und von seinen Bürgern weniger als Ausdruck eines politischen Gemeinschaftswillens verstanden wird, denn als ein künstliches Gebilde fremder Herkunft. Und deshalb bezeichnen wir die neuen Staaten mit dem Kameruner Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe (1992) auch als Postkolonien. Als Historiker sind wir jedoch skeptisch, was Prognosen anbelangt. Im übrigen würde uns selbst das Scheitern des Nationalstaates in Afrika nicht von der Aufgabe entbinden, Vergangenes genau zu ergründen, in der Hoffnung, damit die Gegenwart transparenter zu machen und die Zukunft gestaltbar. Die Krise der afrikanischen Staaten, die sich seit längerem abzeichnete, ist nach dem Ende des Kalten Krieges in voller Schärfe zu Tage getreten. Rebellionen, innere Kriege und das Auftreten von Warlords sind nur eine extreme, aber keineswegs die einzige Ausprägung dieser Krise. Innere Kriege sind denn auch keineswegs ein neues Phänomen in Afrika (Wirz 1982). Viel weiter verbreitet und damit prägender ist der Machtgewinn intermediärer Gewalten in den einzelnen Staaten. Mbembe spricht vom Entstehen eines „gouvernement prive indirect" (Mbembe 1999). Das Monopol legitimer Gewalt, der Grundpfeiler moderner Staatlichkeit, ist für die meisten afrikanischen Regierungen weiter in die Ferne gerückt als je zuvor. Zudem beobachtet man, dass sich die Bevölkerung in vielen Ländern enttäuscht von den Staatsorganen abwendet und sich zur Überlebenssicherung selbst zu organisieren versucht, in Kirchen, Bruderschaften, Frauenorganisationen, Landsmannschaften und anderen lokal verwurzelten Netzwerken und Zweckbündnissen fern aller staatlichen Institutionen. Parallel dazu wächst die informelle Wirtschaft, während die formale Wirtschaft vielerorts schrumpft. Die Frage sei erlaubt, ob diese vielfältigen Initiativen wirklich als Zeichen von Staatszerfall zu lesen sind, oder ob wir hier nicht eher Zeuge eines Aufbruchs sind, in dessen Gefolge sich ganze Gesellschaften neu erfinden. Ob wir nicht Zeuge der Geburt jener Zivilgesellschaft sind, ohne die eine funktionierende Demokratie nicht denkbar ist. Ob hier nicht die ersten Schritte auf dem beschwerlichen Weg zu einem Staat, der Ausdruck der Volkssouveränität sein wird, zu beobachten sind. Mit anderen Worten: Wir leugnen nicht, dass ein Gutteil der afrikanischen Postkolonien in einer tiefen Krise steckt. Wir meinen jedoch: Was vielerorts so blutig kollabiert, ist vor allem eine koloniale Ordnung, deren erstes Ziel die Aneignung lokalen Reichtums war, einer kolonialen Ordnung zudem, die nicht frei war von totalitären Tendenzen, insofern ihre Träger stets besser zu wissen glaubten, was der Bevölkerung frommt, als diese selbst und deshalb gern auf top-down-Strategien setzten, wenn es darum ging, Lösungen für neue und alte Probleme zu finden. Die Krise wäre dann ein Zeugnis dafür, dass eine historische Epoche sich ihrem Ende zuneigt. Der Zusammenbruch der kolonial begründeten Ordnung - tritt er denn wirklich ein - bedeutet aber noch lange nicht das Ende des Nationalstaates im Süden. Denn sowohl die Großen und Mächtigen dieser Welt wie auch die lokalen Politiker halten am Modell des Nationalstaates fest, des Nationalstaates, der in seinem Kern ein Territorialstaat und ein Verwaltungsstaat ist. Darauf basiert schließlich die Staatengemeinschaft, die sich als Völkergemeinschaft versteht und in den Vereinten Nationen ihr Forum hat. Auch das Handeln der afrikanischen Politiker (und Militärs) ist weiterhin darauf gerichtet, die Kontrolle über die zentralen staatlichen Instanzen zu erringen. Oder es zielt auf die Bildung neuer Zentren unter ihrer Kontrolle. Alternativen zum modernen Nationalstaat sind nirgends zu sehen. Varianten ja, unterschiedliche Formen der inneren Ausgestaltung sehr wohl, Alternativen hingegen nicht. Im übrigen ist der Nationalstaat, der noch immer als Inbegriff des modernen Staates gilt, mehr als ein Institutionengebäude. Mehr als Legislative, Exekutive und Judikative, Gewaltmonopol, Gesetze und Rechtsgleichheit, Bürger und Politiker; der moderne Staat ist auch mehr als Parteien und Wahlen, mehr als Steuern, Abgaben und Zukunftssicherung durch öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Produktion, Gesundheitsdienste und Schulwesen. Zum modernen Staat gehört vielmehr eine, wie Michel Foucault das nannte, disziplinierte Gesellschaft (Foucault 1994). Armee, Polizei, Gerichte und Gefängnisse, Schulen und Amtsstuben, Kirchen, Krankenhäuser und Klöster, Fabriken, Plantagen und Handelskontore sind zentrale Orte, Instrumente und Ausdruck dieser Disziplinierung. Lehrer und Kirchenleute, Offiziere und Verwaltungsangestellte, Vorarbeiter, Büroleiter, Schreiber, Richter und Amtsvorsteher sind ihre ersten und wichtigsten Träger. Und genau an diesem Punkt setzt unsere Arbeit an. Disziplinierung und koloniale Staatsbildung Es geht uns weder um Verfassungsfragen noch um die Geschichte staatlicher Institutionen, weder um öffentliche Finanzen noch um Fragen der Klassenbildung, und auch nicht um die Ethnizitätsproblematik, die den wissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre so weitgehend bestimmte. Wir verleugnen nicht die Bedeutung dieser Fragestellungen. Wir wenden uns jedoch anderen Problemen zu, grundsätzlicheren, wie wir meinen und zu Unrecht in Vergessenheit geratenen. Unser Fragen richtet sich auf soziale Disziplinierungsprozesse und die koloniale Subjektbildung, wobei unser Hauptaugenmerk den vielen, oft banal erscheinenden Interaktionen des Alltags gilt, ohne deren Kenntnis weder eine Geschichte des modernen Staates noch eine Sozialgeschichte der Macht im zeitgenössischen Afrika geschrieben werden kann. Die Zeitgenossen wussten sehr wohl um die fundamentale Bedeutung solcher Disziplinierungsprozesse für das koloniale Projekt. Das spiegelt sich beispielsweise in der Frage, welche die Verantwortlichen der deutschen Kolonialexpansion umtrieb: „Wie erzieht man den Neger zum Plantagenarbeiter?" Spätere Generationen haben den Rassismus dieser Preisfrage angeprangert und gezeigt, dass es den Beteiligten weniger um Erziehung als darum ging, Menschen dazu zu bringen, ihre Arbeitskraft zu Hungerlöhnen an Dritte zu verkaufen, was für viele Krankheit und Tod bedeutete (Markmiller 1995). Marxisten haben in diesem Zusammenhang von Zwangsproletarisierung gesprochen. Wir denken, dass diese Interpretation richtig ist, aber trotzdem zu kurz greift. Sie greift unseres Erachtens deshalb zu kurz, weil sie den kulturellen Wandel außer acht lässt, der mit jeder Proleta
isierung einher geht und der darauf hinausläuft, dass die Betroffenen eine ganze Reihe von Werten verinnerlichen, worauf sie letztlich als Fortschritt und Freiheit betrachten, was sie doch unfrei macht, das neue Zeitregime ebenso wie die Arbeitsethik und das Körperregime, die Bildungsideale und die neuen Konsummöglichkeiten. All das ist Teil einer übergreifenden sozialen Disziplinierung. Und genau darum geht es uns: um Spuren und Formen der sozialen Disziplinierung im Prozess der kolonialen Staatsbildung, um die Repräsentation von Macht sodann und vor allem um die Einschreibung von staatlicher Macht in Körper, Raum und Zeit, welche die Handlungsspielräume der einzelnen (und der Gruppen) definieren. Oder um nochmals Michel Foucault zu bemühen: Uns geht es um das Problem der „gouvernementalite" und um die „Mikrophysik der Macht", um die Frage, wie politische Hegemonie im kolonialen Alltag konstruiert und reproduziert wurde. Wie Foucault verstehen wir Macht als etwas, das (durch die Körper) zirkuliert und nur als Verkettung funktioniert (Foucault 1994: 207; Foucault 1999: Vorl. v. 14. Jan. u. 17. März 1976). Im Unterschied zu ihm postulieren wir jedoch keine Abfolge von der Souveränitätsmacht zur Disziplinarmacht zur Regulierungs- und Bio-Macht, wie er das fürs neuzeitliche Europa rekonstruierte. […] |