Herz der Finsternis, von Joseph Conrad

Herz der Finsternis, von Joseph Conrad.

Herz der Finsternis, von Joseph Conrad.

Die alptraumhafte Flußreise ins 'Herz der Finsternis' hat seit 1902 Leser und Interpreten fasziniert und bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Joseph Conrad verarbeitete in diesem autobiographischen Roman eigene Erlebnisse im Kongo aus der Zeit um 1890.

Joseph Conrad  

Die Nellie, eine Yacht, schwojte um den Anker, ohne daß sich die Segel regten, und lag ruhig. Die Flut hatte eingesetzt, es war fast windstill, und da es flußabwärts gehen sollte, konnte man nur Geduld haben und auf den Wechsel der Gezeiten warten. Vor uns erstreckte sich die Themsemündung wie der Anfang einer endlosen Wasserstraße. Draußen gingen See und Himmel nahtlos ineinander über, und die braunroten Segel und glänzend lackierten Sprieten der Lastkähne, die mit der Flut herauftrieben, wirkten im lichten Raum wie scharfe rote Zacken, die unbeweglich zusammengeballt waren. Dunst lag über den niedrigen Ufern, die zur See hin immer flacher wurden. Über Gravesend war es dunkel, und noch weiter hinten schien sich der Himmel, der reglos über der stolzesten und größten Stadt der Erde lastete, düster zusammenzuziehen. Der Direktor der Handelsgesellschaft war unser Kapitän und unser Gastgeber. Wir vier betrachteten wohlmeinend seinen Rücken, als er am Bug stand und seewärts blickte. Nichts auf dem ganzen Fluß sah auch nur halb so seemännisch aus. Er glich einem Lotsen, dem Inbegriff der Zuverlässigkeit für einen Seemann. Es war nicht einfach, sich vorzustellen, daß er seine Arbeit nicht da draußen verrichtete in der lichten Flußmündung, sondern dahinten in der brütenden Dunkelheit. Uns verknüpfte, wie ich schon irgendwo gesagt habe, das Band der See. Es hielt nicht nur unsere Herzen über lange Trennungszeiten zusammen, es bewirkte auch, daß wir die Geschichten eines jeden - auch seine Überzeugungen - mit Nachsicht aufnahmen. Der Rechtsanwalt - der beste aller Kameraden - hatte wegen der Zahl seiner Jahre und seiner Tugenden das einzige Kissen an Deck und lag auf der einzigen Decke. Der Buchhalter hatte schon einen Kasten mit Dominosteinen herbeigebracht und versuchte sich als Baumeister. Nach achtern zu saß Marlow, mit untergeschlagenen Beinen an den Besanmast gelehnt. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut war gelb, der Rücken gerade, sein Aussehen asketisch, und mit den hängenden Armen, die Handflächen auswärts gekehrt, ähnelte er einem Götzen. Der Direktor, zufrieden damit, daß der Anker gut hielt, kam nun nach achtern und setzte sich zwischen uns. Wir wechselten träge ein paar Worte. Dann herrschte Schweigen an Bord der Yacht. Aus irgendeinem Grunde ließen wir das Dominospiel sein. Wir waren nachdenklich gestimmt und wollten den Blick nur so schweifen lassen. Der Tag ging in heiterer Ruhe, mit stillem schönem Glanz zu Ende. Das Wasser schimmerte friedlich, der fleckenlose Himmel in seiner Unendlichkeit leuchtete mild und rein; sogar der Nebel über dem Marschland von Essex wirkte wie ein glänzendes dünnes Gewebe, das von den bewaldeten Anhöhen landeinwärts herabwallte und die niedrigen Ufer in durchsichtige Falten hüllte. Nur das Dunkel, das im Westen über dem oberen Flußlauf lastete, schien immer düsterer zu werden, als sei es erbost über das Nahen der Sonne. Und schließlich neigte sich die Sonne auf ihrer vorgezeichneten unsichtbaren Bahn tief herab und wechselte von gleißendem Weiß zu stumpfem Rot, ohne Strahlen und ohne Wärme, als wolle sie, wie tödlich getroffen von der Berührung mit der Dunstglocke über einer Menschenmenge, plötzlich verlöschen. Sogleich sah das Wasser anders aus. Die heitere Ruhe vertiefte sich zwar, verlor jedoch an Glanz. Nachdem der alte Fluß dem Volk, das seine Ufer bewohnte, jahrhundertelang gute Dienste geleistet hatte, ruhte er nun still in seiner weiten Mündung, hingebreitet in der gelassenen Würde einer Wasserstraße, die zu den äußersten Enden der Welt führt. Unsere Augen sahen den ehrwürdigen Strom nicht im der lebendigen Kraft eines kurzen Tages, der kommt und für immer entschwindet, sondern im verklärenden Licht bleibender Erinnerungen. Und wirklich fällt einem Manne, der mit Hochachtung und Liebe dem »Ruf der See« gefolgt ist, nichts leichter, als den großen Geist der Vergangenheit an den Niederungen der Themse heraufzubeschwören.

Der Gezeitenstrom kommt und geht in unaufhörlichem Wechsel, beladen mit Erinnerungen an Männer und Schiffe, die er zu heimatlicher Ruhe oder zur Seeschlacht trug. Er kannte all die Männer, die der Stolz der Nation sind, und hat ihnen gedient, von Sir Francis Drake bis zu Sir John Franklin, Ritter sie alle, mit und ohne Adel - die berühmten fahrenden Ritter der See. Er trug all die Schiffe, deren Namen wie Edelsteine in der Nacht der Zeiten strahlen, von der „Golden Hind“, deren runder Bauch bei der Heimkehr mit Schätzen gefüllt war, der Ihre Majestät einen Besuch abstattete und die damit ausschert aus der riesenhaften Zahl, bis zu der „Erebus“ und der „Terror“, die nach anderen Eroberungen strebten - und nie zurückkehrten. Er kannte die Schiffe und die Männer. Sie waren von Deptford abgesegelt, von Greenwich, von Erith - Abenteurer und Siedler; Schiffe des Königs und Schiffe der Handelsherren; Kapitäne, Admirale, finstere Schmuggelschiffe des Orienthandels und bevollmächtigte Oberbefehlshaber der ostindischen Flotten.

Goldgierige oder Ruhmsüchtige, sie alle waren auf diesem Strom hinausgezogen, hatten das Schwert getragen und oft die Fackel, als Verkünder der Macht im Lande, als Träger eines Funkens vom heiligen Feuer. Welche Kraft war nicht von der Ebbe dieses Stroms in das Geheimnis fremder Erde getragen worden! ... Die Träume von Menschen, die Saat zu Staaten, die Keime zu Weltreichen. Die Sonne sank, die Dämmerung fiel über den Strom, und Lichter begannen an den Ufern aufzuflammen. Der Leuchtturm von Chapman, auf drei Beinen auf einer Schlickbank errichtet, verbreitete Helligkeit. Schiffslichter schoben sich durchs Fahrwasser, in wimmelnder Vielzahl wanderten sie stromauf und stromab. Weiter westlich am Oberlauf zeichnete sich noch immer die Lage der Riesenstadt drohend am Himmel ab, als Dunstglocke im Sonnenschein, als düsterer Glanz unter den Sternen. “Und auch dies da“, sagte Marlow plötzlich, „zählte einst zu den finstersten Orten der Erde.“ [...]

Dies ist ein Auszug aus dem Roman: Herz der Finsternis, von Joseph Conrad.

Buchtitel: Herz der Finsternis
Autor: Joseph Conrad
Originaltitel: Heart of Darkness
Genre: Afrika-Roman
Übersetzung und Nachwort: Urs Widmer
Diogenes Verlag
Zürich, 2005
ISBN 9783257234862 / ISBN 978-3-257-23486-2
Broschur, 11x18 cm, 224 Seiten

Conrad, Joseph im Namibiana-Buchangebot

Herz der Finsternis

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Herz der Finsternis ist eine der eindringlichsten Erzählungen aus dem klassischen Afrika- und Kolonialgenre.

Heart of Darkness and Other Tales

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