Der Ruf der Kalahari, von Patricia Mennen

Der Ruf der Kalahari, von Patricia Mennen.

Der Ruf der Kalahari, von Patricia Mennen.

Paticia Mennen beschreibt in ihrem Roman Der Ruf der Kalahari, die Ankunft der jungen Deutschen Jella in Südwestafrika: Am 23. August 1903, nach genau dreißig Tagen Schiffsreise, näherte sich die Hans Woermann Swakopmund. Die deutsche Stadt verfügte über keinen eigenen Seehafen.

Patricia Mennen  

Es gab zwar in der etwa dreißig Kilometer südlich gelegenen Walvisbay einen geschützten Hafen, aber den hatten einige Jahre zuvor die Engländer unter ihr Protektorat gestellt. Zum Löschen ihrer Fracht mussten die deutschen Schiffe einige hundert Meter vor der Küste vor Anker gehen. Es gab zwar eine gewaltige Mole, die einige Jahre zuvor ins Meer hinein gebaut worden war, doch die war mittlerweile kaum noch zu gebrauchen. Nur in den ersten Monaten nach ihrer Fertigstellung war es möglich gewesen, von der Mole aus die einlaufenden Schiffe zu entladen. Mächtige Dampfkräne hatten dafür gesorgt, dass die Lasten schnell aus den Schiffsbäuchen geladen werden konnten. Doch schon bald hatte sich herausgestellt, dass die Sandbewegungen während der Tide die Mole rasch versanden ließen. Jede Flut häufte neuen Sand auf, sodass bei Niedrigwasser eine Löschung der Ladung wegen zu geringer Wassertiefe bald unmöglich war. Von Monat zu Monat verringerte sich der Zeitraum, in dem die Mole genutzt werden konnte. In diesen Tagen war nur bei Hochwasser noch ein ungefährdetes Ankern an dem Landungssteg möglich. Schon aus diesem Grund blieben die Kru-Boys unentbehrlich.

Zeit war Geld. Damit die Ladung möglichst schnell und unabhängig von den Gezeiten gelöscht werden konnte, brauchte man ihre Hilfe. Sobald die Schiffe vor Anker gegangen waren, stiegen die Kru-Boys in flache, langgezogene Landungsboote um und setzten sich an die Ruder. Mit unglaublicher Geschicklichkeit hielten sie ihre Boote in der kabbeligen See längsseits des Schiffes und warteten darauf, dass die Ladung in Körben zu ihnen herabgelassen wurde. Dann ruderte die Mannschaft los und bugsierte in halsbrecherischen Fahrten die flachen Boote durch die gefährliche Brandung an Land. Wenn mehrere Schiffe vor Swakopmund vor Anker lagen, dann wimmelte die See von schwarz bemannten Landungsbooten, die haarscharf aneinander vorbei ihre Ladungen an Land transportierten. Es war unvermeidlich, dass auch die Passagiere auf diese Weise an Land gebracht werden mussten.

Kurz nach Sonnenuntergang ließ der Kapitän der Hans Woermann die Anker setzen. Jella stand mit Lisbeth draußen an Deck und starrte in die schwarze Nacht. »Sieh nur«, rief Lisbeth begeistert und deutete auf ein beeindruckendes Sternbild, das sich quer über den klaren Nachthimmel zog. »Das ist das Kreuz des Südens. Ist es nicht wundervoll? Den Großen und den Kleinen Wagen wirst du hier auf der Südhalbkugel vergeblich suchen.«

Jella starrte in den Himmel und versuchte das Sternbild auszumachen, das Lisbeth ihr zeigen wollte. Doch die Sterne leuchteten so hell und in so großer Zahl, dass es ihr auf Anhieb nicht gelang, das Kreuz des Südens auszumachen. Fasziniert genoss sie das helle nächtliche Leuchten. Am nächsten Morgen konnte sie es kaum erwarten, an Deck zu gehen, um einen ersten Blick auf ihre neue Heimat zu werfen. Lange vor Sonnenaufgang stand sie an der Reling. Dichter grauer Nebel umgab sie. Irgendwo in der grauen Suppe schrien Seemöwen. Außerdem war es empfindlich kalt. Schaudernd hüllte sie sich in ihre warme Wollstola. Der Nebel vor der afrikanischen Küste war so voller Feuchtigkeit, dass Jellas Haut bald mit feinen Wassertröpfchen überzogen war. Ihre kupferroten Haare begannen sich widerspenstig zu kräuseln.

»Das also soll Afrika sein?«, entfuhr es ihr enttäuscht, weil sie nahezu nichts von ihrer neuen Heimat erkennen konnte. Sie hatte es laut vor sich hin gesagt.
»Swakopmund wird Sie auf den ersten Blick eher an einen norddeutschen Kurort erinnern als an eine exotische Stadt.«

Jella drehte sich überrascht um. Sie hatte sich allein gewähnt. Fritz van Houten war unbemerkt zu ihr getreten. Sie fühlte sich ertappt. Die letzten beiden Tage war sie ihm absichtlich aus dem Weg gegangen. Der hochgewachsene Mann mit seinem intensiven Blick aus dunklen Kohleaugen verwirrte sie.

»Was Sie nicht sagen!«, entgegnete sie etwas hilflos. Van Houten lächelte, bevor er fortfuhr.
»Dieser Nebel ist für Swakop ganz typisch. Aber keine Angst, in wenigen Stunden wird er sich gelichtet haben, und dann werden Sie eine ungehinderte Sicht auf Ihr neues Zuhause haben.«

Van Houten lüpfte seinen breitkrempigen Strohhut und nickte ihr freundlich zu. »Ich wünsche Ihnen ein erfreuliches Wiedersehen mit Ihrem Vater.« Damit verschwand er im dichten Nebel. Zwischen neun und zehn Uhr lichtete sich der Nebel tatsächlich. Erst riss die Sonne ein kleines Loch in den trostlosen Himmel, das sich dann rasch vergrößerte und wie ein sich hebender Vorhang den Blick auf Swakopmund freigab. Kurz darauf erlebte Jella eine zweite Enttäuschung. Sie hatte ein hübsches norddeutsches Städtchen erwartet, so wie die Plakate und Werbungen Deutsch-Südwest immer anpriesen. Stattdessen blickte sie auf ein paar locker verstreute Holzhütten, eine Kirche und wenige Steinhäuser, die alles andere als den Eindruck einer prosperierenden Stadt vermittelten.

Alles in allem sah die Ansiedlung ziemlich öde und planlos aus. Immerhin hatten sich am Strand in der Nähe des kümmerlichen Leuchtturms ein paar Menschen versammelt, um die neu Angekommenen zu begutachten. Mit dem sich auflösenden Nebel verflog auch Jellas Zuversicht. Auf was hatte sie sich hier bloß eingelassen? Sie biss sich auf die Lippen und kämpfte trotzig gegen die aufsteigenden Tränen. Zum Glück kam Lisbeth mit ihrer Reisetasche zu ihr.

»Nun mach schon, Jella«, rief sie voller Tatendrang. »Wir wollen sehen, dass wir bei den Ersten sind, die das Schiff verlassen können. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, diesen schunkelnden Dampfer zu verlassen!« Jella ließ sich durch die aufmunternden Worte ihrer Freundin gern trösten. Sie ging ein letztes Mal in ihre Unterkunft im Zwischendeck, nahm ihre gepackten Taschen und begab sich an die Reling, von der aus die Passagiere an Körben in die schwankenden Landungsboote der Krus hinabgelassen wurden. Die Körbe erinnerten an norddeutsche Bienenkörbe. Nur waren sie mit einer seitlichen Einstiegsluke versehen. Ein seltsam mulmiges Gefühl befiel sie, als sie von oben herab auf die schwankenden Boote blickte und sich vorstellte, wie sie gleich in dem pendelnden Korb aus schwindelerregender Höhe hinabgelassen würde.

Immer zwei Personen fanden Platz in dem engen Transportkorb. Am oberen Ende waren Halteschlaufen aus Leder festgemacht, an denen man sich festhalten konnte. Die Gäste der ersten Klasse kamen als Erste an die Reihe. So manch einer stieg bibbernd hinein. Andere schlossen die Augen, sprachen ein kurzes Gebet oder verzogen angstvoll ihr Gesicht, wenn es hinabging. Doch die Kru-Boys waren äußerst geschickt. Sie griffen beherzt nach dem ankommenden Korb und halfen den Passagieren an Bord. Sofort wurde der Korb wieder nach oben gezogen, bevor wenig später der nächste anlandete. Lisbeth gehörte plötzlich auch zu denjenigen, die lieber gestorben wären, als sich in das wankende Ungetüm zu begeben.

»Dieses windige Gestell wird mich niemals tragen. Es wird mich einfach in die See hineinspülen«, jammerte sie. »Dabei kann ich nicht einmal schwimmen!«
»Nun stell dich nicht so an«, lachte Jella. »Oder willst du etwa wieder mit der Hans Woermann zurück nach Deutschland schippern? Denk doch mal an die Seekrankheit.« Lisbeth sah Jella erschrocken an.
»Nein, zurück geh ich ganz bestimmt nicht mehr. Lieber ertrinke ich in dieser kabbeligen Brühe da unten.« Entschlossen griff sie nach der Halteschlaufe und stieg zu Jella in den Korb.

»Einen angenehmen Aufenthalt den jungen Damen«, wünschte ein Offizier noch zum Abschied. Dann ging es hinunter in Richtung Landungsboot. Etwa fünf Meter über dem sie erwartenden Boot blieb der Korb für einen Augenblick stecken. Lisbeth schrie ängstlich auf. Jella versuchte sie zu beruhigen. Doch der Korb begann nun gefährlich hin und her zu schwanken. Von oben hörten die beiden jungen Frauen eilige Befehle.

»Ruhig bleiben«, rief jemand. Doch Lisbeth war dazu ganz und gar nicht in der Lage. Unwillkürlich ging sie in die Knie und ließ dabei beinahe die Schlaufe los.
»Ich kann nicht schwimmen«, heulte sie. »Mein letztes Stündlein hat geschlagen.«
»Nun stell dich doch nicht so an. Sieh mal, es geht schon wieder weiter.«

Tatsächlich machte der Korb einen Ruck und senkte sich wieder. Allerdings pendelte er immer noch sehr stark und schien das Landungsboot knapp zu verfehlen. Jella rechnete schon mit einem Bad, als starke Hände nach dem Korb griffen und ein beherzter Griff sie aus dem Korb rein in ein nicht minder schwankendes Boot zog. Josuah sah Jella mit seinen freundlichen Augen an und lachte. […]

Dies ist ein Auszug aus dem Buch: Der Ruf der Kalahari, von Patricia Mennen.

Buchtitel: Der Ruf der Kalahari
Autorin: Patricia Mennen
Verlag: Blanvalet
München, 2010
ISBN 978-3-442-37517-2
Broschur, 480 Seiten, 12x19 cm, 1 Karte

Mennen, Patricia im Namibiana-Buchangebot

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