Der lange Schatten, von Bernhard Jaumann

Der lange Schatten, von Bernhard Jaumann. Verlag: Kindler, Reinbek 2015. ISBN 9783463406480 / ISBN 978-3-463-40648-0

Der lange Schatten, von Bernhard Jaumann. Verlag: Kindler, Reinbek 2015. ISBN 9783463406480 / ISBN 978-3-463-40648-0

In dem spannenden Kriminalroman verwebt Schriftsteller Bernhard Jaumann die politischen Fragen und Behauptungen von Schuld und Wiedergutmachung, die in der Beziehung zwischen Deutschland und Namibia immer wieder lanciert werden, in einen Handlungsrahmen mit kriminellen namibischen Aktivisten, die ihre Ansprüche mit Raub und Erpressung erfüllen wollen.

Bernhard Jaumann  

[...] Mit der Schuhsohle trieb er ihn mühelos in die nasse Erde, doch als er anhob, merkte er, wie schwer sie war. Egal. Er war stark, er war ausgeruht und hatte Zeit genug. Er warf den Aushub auf das Grab nebenan. Kaiphas arbeitete konzentriert, und bald wurde ihm warm. Nach einer Stunde war er schon gut einen Meter tief gekommen. Er richtete den Oberkörper gerade und streckte sich. Der Regen fiel, als wolle er nie aufhören. Kaiphas spürte, wie er schwitzte und wie die Tropfen den Schweiß von seiner Haut spülten. Es war ein gutes Gefühl, eines, das ihm bewies, dass nichts schiefgehen konnte. Er würde seinen Auftrag erledigen und als Held nach Namibia zurückkehren. Dort stünden ihm alle Möglichkeiten offen. Er könnte sich einen Laden kaufen, eine Kneipe oder ein Taxi, er könnte sich eine Frau nehmen und ein paar Söhne zeugen, er könnte sonst was machen. Vielleicht würde er sogar ins Hereroland ziehen und Rinder züchten wie seine Vorfahren. Warum nicht? Kaiphas legte die Hand auf den Beutel an seiner Brust. Das Le9 der war nass, der Regen plätscherte, und von irgendwoher schlug ganz schwach eine Kirchturmglocke. Dreimal, glaubte Kaiphas. Er griff nach seinem Koffer, holte die Stirnlampe heraus, schaltete sie aber nicht ein. Noch stand er nicht tief genug, sodass der Lichtpunkt über das Grab hinaus sichtbar wäre. Ein zufälliger Beobachter sähe ein auf und ab, hin und her tanzendes Irrlicht, das hüfthoch über dem Boden schwebte. Wenn Kaiphas Glück hätte, würde man ihn für den Geist eines Toten halten, doch er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Er brauchte die Lampe noch nicht. Es war äußerst unwahrscheinlich, jetzt schon auf Knochen zu stoßen. Kaiphas hatte sich informiert. Bis zu zwei Metern schachteten die Deutschen normalerweise aus. So tief, dass das Gewicht der Erde einen Sarg bald einbrechen ließ. Sie wollten kein Bett für die Ewigkeit, sie wollten niemanden bewahren, im Gegenteil: Erde zu Erde, Staub zu Staub. Nach fünfundzwanzig Jahren sollte nichts anderes mehr übrig sein. Nur die Gebeine hielten sich meist nicht an den Zeitplan der Friedhofsverordnungen. Doch ob sie auch nach fünfzig Jahren noch vorhanden waren, hing von der Bodenbeschaffenheit, der Erdverdichtung, dem Sauerstoffgehalt, dem Wassereintritt ab. Unter bestimmten Bedingungen würde man eine Wachsleiche mit Haut und Haaren freilegen, unter anderen wären auch die dicksten Knochen zerfallen. Es gab keine Formel, mit der man berechnen konnte, was fünfzig oder hundert Jahre unter der Erde bewirkten. Wer nicht nachgrub, würde es nie wissen. Kaiphas richtete sich auf. Er konnte gerade noch über den Rand des Lochs hinwegsehen. Allmählich musste er in der richtigen Tiefe angelangt sein. Er senkte den Kopf und schaltete die Stirnlampe ein. Durch den Lichtkegel strich der Regen. Am Boden war nichts zu entdecken, was nach Knochen aussah. Nur Erde und die verriet nicht, ob sie mal ein Holzsarg oder ein Menschenherz gewesen war. Mach mir keine Schwierigkeiten, Mann, dachte Kaiphas. Stell dich nicht so an wegen der paar Knochen! Du bist tot, Mann! Du hast bloß eine Vergangenheit, keine Zukunft mehr. Ich habe eine Zukunft, und die wirst du mir nicht kaputt machen! Der Regen rauschte, und Kaiphas grub weiter. Je tiefer er vorstieß, desto schwerer fiel es ihm, den Aushub aus dem Grab zu befördern. Wenn er nicht weit genug warf, rutschte die Erde über die Grabumfassung zurück. Kleine Schlammlawinen prasselten auf seine Schultern, begruben seine Stiefel. Kaiphas lachte leise auf. Da war er zehntausend Kilometer von Windhoek nach Frankfurt geflogen, war mit dem Zug nach Freiburg gefahren, hatte das Grab gefunden, hatte sich in die Tiefe gegraben, buddelte immer weiter, ohne etwas zu finden, nur um letztlich selbst verschüttet zu werden? War das nicht komisch? Er schüttelte den Kopf und machte sich daran, eine weitere Schicht freizulegen. Nein, hier war gar nichts komisch. Erde zu Erde, Staub zu Staub, verdammter Schlamm zu verdammtem Schlamm. War das wirklich alles, was geblieben war? Kaiphas spürte seine Muskeln müde werden. Zum Trotz arbeitete er nun hastiger als zuvor, keuchte bei jedem Spatenstich. Ein Klumpen Wut ballte sich in seinen Eingeweiden zusammen und stieg langsam nach oben. Dieser verfluchte Tote durfte sich nicht einfach so davonstehlen! Das konnte er ihm nicht antun. Kaiphas begann, in der Mitte des Grabs einen Schacht nach unten zu treiben. Dort, wo sich das Becken des Manns befunden haben musste. Er setzte den Spaten an, trat mit einer wilden Kraft zu, schippte die Erde achtlos nach vorn. Ja und ja und noch eine Schippe und nimm das und… Kaiphas erstarrte in der Bewegung. [...]

Dies ist ein Auszug aus dem Namibia-Kriminalroman: Der lange Schatten, von Bernhard Jaumann.

Titel: Der lange Schatten
Autor: Bernhard Jaumann
Genre: Namibia-Kriminalroman
Verlag: Kindler
Reinbek, 2015
ISBN 9783463406480 / ISBN 978-3-463-40648-0
Kartoneinband, Schutzumschlag, 13 x 21 cm, 320 Seiten

Jaumann, Bernhard im Namibiana-Buchangebot

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